Die Todesmärsche 1944/45

Als vor 15 Jahren Daniel Goldmanns Buch »Hitlers willige Vollstrecker“ intensiv und kontrovers diskutiert wurde, waren sich viele doch in einem einig: Es war ein Verdienst Goldhagens, den Blick auch auf die Todesmärsche in der Endphase des Krieges gerichtet zu haben. Wovon eine breitere Öffentlichkeit damals erstmals Kenntnis nahm, ist in der Zwischenzeit durch eine Reihe einzelner Untersuchungen vertieft worden. Die erste zusammenhängende Studie hat aber erst jetzt der israelische Historiker Daniel Blatman vorgelegt: »Die Todesmärsche 1944/45 - Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords«.

Etwa 250.000 KZ-Häftlinge wurden in den letzten Kriegsmonaten während der später so genannten »Todesmärsche« ermordet oder starben an Entkräftung. Angesichts der vorrückenden Front räumten die Nazis ab dem Jahresende 1944 Konzentrationslager mit der Absicht, die Häftlinge in Lager im Innern Deutschlands zu bringen. Am Ende war Bergen-Belsen eins dieser Ziele und das Celler Massaker vom 8. April 1945 ist in diesen Zusammenhang einzuordnen. Deshalb ist Blatmans Untersuchung auch für all jene äußerst interessant, die sich vorwiegend für die regionalgeschichtlichen Aspekte interessieren. Mit Blatmans Buch ist zum einen eine Einordnung in den Gesamtzusammenhang möglich; zum andern aber liefert er Thesen zu den Motiven der Täter, die die Diskussion bereichern können.
Die Studie wurde 2008 in Frankreich erstveröffentlicht. Deshalb finden die Untersuchungsergebnisse von Bernhard Strebel über das Celler »Massaker vom 8. April 1945« keine Berücksichtigung. Blatman stützt sich zu Celle im Kern auf ältere Aufsätze von Mijndert Bertram. Allerdings hat er britische Quellen sowie Zeitzeugenberichte von Häftlingen einbezogen – wie auch Interviews mit Celler Augenzeugen, ohne dies allerdings quellenkritisch einzuordnen.

Blatmans Thesen zu den Motiven der Täter sind allerdings eine interessante Ergänzung zur bisherigen Diskussion. Denn aus der Zusammenschau mit anderen Endkriegsverbrechen kommt der Historiker zu seiner zentralen These, wonach die beschriebene letzte Phase „von einer mörderischen Ideologie geleitet wurde, die sich dezidiert von jener unterschied, die in den vorangegangenen Jahren ausgebildet worden war.“ (688)

Neben den Antisemitismus, der den Holocaust ideologisch trägt, traten seiner Auffassung nach weitere rassistische Einstellungen, „die zu Morden mit anderen Charakteristika führten.“ (688) Der »eliminatorische Konsens« habe zwar weiter bestanden, aber: „Das Morden war jetzt zu einem nihilistischen, lokal begrenzten Akt geworden, der nicht mehr von höheren Stellen befohlen und angeleitet wurde.“ (689)

Blatman weist darauf hin, dass die Mörder keinen Unterschied mehr machten zwischen Juden und Nicht-Juden. Die Identität der Opfer wurde nicht mehr bestimmt durch ethnische oder rassistische Zuordnungen, „sondern aufgrund von Taten, die sie – nach Ansicht weiter Teile der deutschen Bevölkerung – hätten begehen können.“ (691) Obwohl die Häftlinge entkräftet und wehrlos waren, wurden sie allerorten als Gefahr wahrgenommen: „Da es nicht mehr bzw. immer seltener möglich war, sie an einen Ort zu verbringen, wo sie auf absehbare Zeit weiter interniert und durch Sklavenarbeit zu Tode geschunden werden konnten, musste die dämonische Gefahr, die sie darstellten, auf anderem Wege beseitigt werden.“ (692)

Besonderes Augenmerk legt Blatman auf die Entstehung »Krimineller Gemeinschaften«, was so auch auf Celle zutrifft: „Einzigartig an diesen Phänomenen ist das Auftreten einer neuen Gemeinschaft von Mördern, einer «lokalen Abwicklungsgemeinschaft», deren Mitglieder sowohl altgediente Mörder waren (die SS-Aufseher), [...] als auch Personen, die sich dem mörderischen Treiben erst anschlossen, als es ihr Lebensumfeld und ihre Familie unmittelbar betraf: Mitglieder des Volkssturms, Polizisten, lokale Parteifunktionäre, Angehörige der Hitlerjugend und andere Normalbürger.“ (692)

Und der Historiker betont die Bedeutung der »passiven Teilhaberschaft« der Bevölkerung: „Es sind die Bürger, die das Entstehen der genozidären Mentalität gutheißen und Einzelne aus ihren Reihen dazu veranlassen, an den Massenmorden teilzunehmen.“ (697)

Daniel Blatman: Die Todesmärsche 1944/45 - Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords. Reinbek (Rowohlt Verlag) 2011. 864 S., ISBN 978-3-498021-27-6, 34,95 EUR.

Aus: revista. linke zeitung für politik und kultur in celle, Nr. 55, Juli/Aug. 2011, S. 29.

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