Ein amerikanischer Bombenangriff, deutsche Massaker an KZ-Häftlingen und ein britisches Gerichtsverfahren

Das ist "Geschichte, die noch qualmt"?, lautet die gern zitierte Warnung der amerikanischen Historikerin Barbara Tuchmann bei der Auseinandersetzung mit zeitgeschichtlichen Fragen. Die Ereignisse des 8. und 9. April 1945 in Celle gehören auch in diesem Sinn zur Zeitgeschichte. Über Jahrzehnte war es gelungen, das Massaker an KZ-Häftlingen aus dem öffentlichen Gedächtnis zu verbannen. Und noch mit der in den 1980er Jahre einsetzenden historischen Aufarbeitung gingen Tabuisierungen einher: Die bekannten Namen von Tätern wurden öffentlich verschwiegen, die institutionellen Verantwortlichkeiten blieben im Dunkeln. Dennoch galt die kleine Studie von Mijndert Bertram "April 1945" als verlässliche Darstellung des Geschehens. In der jetzt, knapp 20 Jahre danach veröffentlichten Untersuchung "Celle April 1945 revisited" korrigiert der Hannoversche Historiker Bernhard Strebel auf Grundlage neuer und zusätzlich gesichteter Quellen etliche bisher als gesichert geltende Annahmen.

Den Anstoß zu einer erneuten Recherche hatte Bertram selbst gegeben, als er vor knapp drei Jahren behauptete, es lägen noch immer Häftlingsleichen unter den Bahnschienen. Zusätzliche Brisanz gewann das Thema mit der von ihm in einem Aufsatz aufgestellten These, das Massaker falle in den Verantwortungsbereich des damaligen Oberbürgermeisters Ernst Meyer - was zu einer zunächst kontroversen öffentlichen Diskussion, dann im Ergebnis aber zur Umbenennung der Ernst-Meyer-Allee führte. Die Niedersächsische Gedenkstättenstiftung beauftragte Bernhard Strebel mit der Untersuchung der Häftlingsschicksale; und mit der Stadt Celle als Herausgeber erweiterte sich das Forschungsfeld später auf den gesamten Zusammenhang.

So stellt Strebel die Fragen nach Opfern und Tätern neu. Er erzählt drei Vorgeschichten, jene der Häftlinge, jene der Stadt im Frühjahr 1945 und die nach dem Hintergrund und Verlauf des Bombardements. Bei der Analyse der Verbrechen unterscheidet er die unkoordinierten Lynchmorde während der Hetzjagd am 8. April und die während der systematischen Durchkämmaktion am 9. April begangenen Ermordungen der Häftlinge. Die Tage danach brachten für einen großen Teil der überlebenden Häftlinge den Marsch nach Bergen-Belsen und dort die Konfrontation mit einem Schrecken noch größeren Ausmaßes, für einen kleineren Teil das Warten auf die Befreiung in einem Pferdestall der Heidekaserne und für einige wenige auch gelungene Fluchten. Diese Nachgeschichte ist in großen Teilen bisher nicht beschrieben worden. Schließlich wird der Prozess in den Jahren 1947/48 auf Grundlage der Akten aus dem britischen Public Record Office dargestellt, justizgeschichtlich eingeordnet und in seinen Schwierigkeiten analysiert. In seinem "Versuch einer Bilanz" fasst der Autor die neu gewonnenen Erkenntnisse über den Verbleib der Leichen, die Zahl der Bombenopfer und die Zahl der Opfer der Hetzjagden und Massaker zusammen.

Die Studie besticht durch ihre Genauigkeit, wobei Strebel nirgendwo versucht, Ungereimtheiten und Lücken zu glätten. Gerade die fundierte Quellenkritik und die Herausarbeitung letztlich nicht zu klärender Aspekte machen deutlich, wie vieles bisher unhinterfragt blieb. Man kann es fast als Kriminalgeschichte lesen, wie der Autor den von Tätern erzählten Geschichten den Boden entzieht und den entlastenden Legendencharakter offen legt. Wo der Autor den Schicksalen der Opfer nachgeht, gewinnt seine Recherche an Tiefe dadurch, dass er das Grauen von Celle eben nicht räumlich und zeitlich isoliert betrachtet, sondern es - aus der Perspektive der Häftlinge - in einen Zusammenhang mit der Vor- und Nachgeschichte stellt.

Zum Ausgangspunkt - nämlich der Frage nach der Zahl und dem Verbleib der Opfer - liefert die Studie Ergebnisse, die erheblich von den bisherigen, zum Teil aber schon in Frage gestellten Darstellungen abweichen: Bertram ging davon aus, dass dem Bombenangriff etwa 800 Zivilisten und über 2000 Häftlinge zum Opfer fielen und weitere 200 bis 300 Häftlinge im Verlauf der Treibjagden und Massaker ermordet wurden. - Nach Strebel kann eine Mindestzahl von etwa 170 Massakeropfern, die auf dem Celler Waldfriedhof begraben sind, als gesichert gelten - die Gesamtzahl aber noch um einiges darüber liegen. Die Zerstörungswucht des Bombenangriffs wurde bisher überschätzt: Unter den Häftlingen gab es etwa 500 Tote, wobei die Quellenlage hier nicht mehr als eine Schätzung zulässt. Genau beziffert werden kann dagegen die Zahl der zivilen Bombenopfer: Ausweislich insbesondere der Beerdingungsregister starben 122 Einwohner, darunter zehn Ausländer.

Über den Verbleib der KZ-Häftlinge, die bei dem Bombenangriff ums Leben kamen, kann auch Strebel keine Klarheit schaffen. Eine würdige Bestattung hat es nicht gegeben, so dass davon auszugehen ist, "dass sich in den zugeschütteten Bombenkratern - und damit unter den Bahngleisen - noch Leichen und Leichenteile von Häftlingen befinden".

Wie sehr man sich in den 1980er Jahren von der so lange verdrängten Dimension des April 1945 beeindrucken ließ, zeigt sich rückblickend auch in dem Foto auf der Titelseite der Broschüre Bertrams. Es ist seitdem häufig veröffentlicht worden, um die Gewalt des Bombenangriffs zu veranschaulichen: aus den Schienen geworfene Lokomotiven auf einem zerfurchten Bahnhofsgelände. Nur hätte man bei genauerem Hinschauen schon immer feststellen können, dass es sich nicht um eine Aufnahme aus Celle handelt. Strebel hat im Rahmen seiner Recherchen dagegen bisher unzugängliche Luftaufnahmen britischer und amerikanischer Herkunft ausfindig gemacht und dokumentiert, die die Situation auf dem Güterbahnhof in den Tagen danach darstellen. Der 30-seitige Foto- und Dokumentenanhang rundet insgesamt die Recherche ab und illustriert einige der Schlussfolgerungen.

Das Buch "Celle April 1945 revisited" beeindruckt beim Lesen durch seine klare Struktur und geschichtswissenschaftliche Methodik. Bernhard Strebel ermöglicht so einen geschärften Blick auf "Celles dunkelstes Kapitel" - und befreit die bisherige Darstellung des Geschehens und Verbrechens von einigen irreführenden Legenden. Wenn der Text bei aller akribischen Auswertung der Quellen nicht nur lesbar bleibt, sondern zu fesseln vermag, hat das damit zu tun, dass der Autor schreiben kann. Und so hat das Buch einen weit über das "Fachpublikum" hinausgehenden LeserInnenzuspruch verdient.

Bernhard Strebel: Celle April 1945 revisited. Ein amerikanischer Bombenangriff, deutsche Massaker an KZ-Häftlingen und ein britisches Gerichtsverfahren. Bielefeld 2008. ISBN 978-3-89534-768-9. 173 Seiten. 19 Euro.

Aus: revista, Nr. 41, Dez./Jan. 2008/2009, S. 26-27