Zwischen Ziegeninsel und Stadtgraben - Eine jüdische Kindheit in Celle (Rezension)

Durch diverse Besuche in Celle ermuntert, hat Kurt W. Roberg jetzt Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend in seiner Geburtsstadt veröffentlicht, die er nach der Pogromnacht im Dezember 1938 im Alter von 14 Jahren verließ. Roberg emigrierte über die Niederlande in die USA und überlebte so die nationalsozialistische Judenverfolgung.

Keinen "Risches machen" - das hat sich bei Kurt Roberg als Hauptregel für das Verhalten in jener antisemitischen Umwelt der dreißiger Jahre eingeprägt. "Risches" ist ein volkstümlich-jüdischer Code für "Antisemitismus". Die Nazis nicht "provozieren", ihnen keinen Anlass geben, die Ausgrenzung zu verschärfen. Roberg beschreibt dieses Verhalten als gewissermaßen stillschweigende Übereinkunft der kleinen jüdischen Gemeinde in Celle: Mit ihrem Verhalten wollte die jüdische Bürgerschaft der Stadt verhindern, dass Geschäfte oder Konditoreien Schilder mit der Aufschrift »Juden nicht erwünscht« anbrachten. Wir Juden hielten uns freiwillig fern, um diese Schmach nicht erdulden zu müssen. Dennoch erschienen solche Schilder in verschiedenen Lokalen, so an den beiden Kinos ab 1937/38. Für die Besitzer war es ein politischer und geschäftlicher Vorteil, ihre Haltung auf diese Weise deutlich zu machen. (15)
Schon vor 1933 verkehrten die jüdischen Familien der Stadt fast nur untereinander, die Akademiker mit Familien aus Hannover, Kaufmannsfamilien wie die der Robergs mit anderen Kaufmannsfamilien wie denen der Wolffs und den Salomons. Bis zu den antijüdischen Boykottkampagnen lieferte das Textilgeschäftes des Vaters eine materielle Sicherheit, die auch eine eher unbeschwerte Kindheit ermöglichte. Geschildert werden viele kleine Erlebnisse, die auch einen Einblick in das Alltagsleben jüdischer Familien im Celle der 1920er und 30er Jahre geben. Er ging zunächst auf die Altstädter Schule und dann auf die in direkter Nachbarschaft zum Elternhaus liegende Hermann-Billung-Schule. Hier haben Kurt und sein zwei Jahre älterer Bruder Hans neben einigen ausgemachten Nazi-Lehrern auch Wilhelm Klemm, Dr. Rüggeberg und Otto Volger als Lehrer kennen gelernt - humanistisch orientierte "Pauker", die sich schützen vor die beiden einzigen jüdischen Schüler stellten. Rüggeberg und Volger wurden 1939 zwangsweise in den Ruhestand versetzt: "Ein gutes Beispiel, wie Studienrat Klemm dachte und handelte, erlebte ich im Frühjahr 1936. Die Klasse plante einen Ausflug in den Harz, wo wir in den Jugendherberge übernachten sollten. Als diese Pläne in der Klasse besprochen wurden, fragte ein Junge: »Geht Roberg denn da auch mit?« Sicherlich waren sich alle darüber im Klaren, dass Juden in den Jugendherbergen nicht erlaubt waren, sie waren jetzt »Ariern« vorbehalten. »Wenn Roberg nicht geht, geht niemand!«, war die Antwort von Ete [Spitzname von Klemm] und damit war die Sache erledigt." (67)
Nach der Pogromnacht schicken die Eltern ihren erst 14-jährigen Sohn zu Verwandten in die Niederlande, die Eltern folgten im März 1939.
Interessant ist Robergs - und damit wahrscheinlich des bürgerlichen Teils der jüdischen Gemeinde - Blick auf jene Milieus der Weimarer Republik, die sich gegen den Machtanspruch der Nazis zur Wehr setzten. In der Fritzenwiese lebend, war ihm die "Masch" zwar geografisch nah, von der Mentalität her aber doch sehr fern: "In Celle war während der zwanziger und dreißiger Jahre die Blumlage, im Volksmund, »die Masch«, hauptsächlich vom Proletariat bewohnt. Unter uns Kindern war »Mascher« das schlimmste Schimpfwort, das man einem nachsagen konnte. Der Blumläger Arbeiterstand war überwiegend kommunistisch gesinnt. Es gab des öfteren Schlägereien zwischen SA und KPD. SA war die Abkürzung für »Sturm-Abteilung«. Sie bestand aus Männern, die stolz darauf waren, sich zu prügeln. (Das S stand wohl mehr für »Schläger« als für »Sturm«.) Gleichfalls hatte auch die KPD ihre Schläger und so verkloppten sie sich nicht nur aus politischer Überzeugung, sondern auch um Randale zu machen." (23)
In dieser Passage zeigt sich eine Schwäche der Erinnerungen. Dies mag die Sicht des Kindes und Jugendlichen gewesen sein. Die Frage drängt sich auf: Sieht Kurt Roberg das heute auch noch so? Immerhin sind aus den Reihen der KPD etliche Mitglieder von den Nazis nicht wegen "Körperverletzung", sondern wegen "Hochverrats" zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Und wie beurteilt er heute die "Strategie" seines Milieus, "keinen Risches machen" zu wollen?
Trotz dieser reflektiven Mängel ein aus lokalgeschichtlicher Sicht lesenswerter Band, ist es doch die einzige ausgearbeitete Erinnerung eines Mitglied der Celler jüdischen Gemeinde über die Verfolgung durch den Nationalsozialismus.

Roberg, Kurt W.: Zwischen Ziegeninsel und Stadtgraben. Eine jüdische Kindheit und Jugend in Celle 1924-1938. Bearbeitet von Joachim Piper. Herausgegeben von der Gesellschaft für Christlich-jüdische Zusammenarbeit. Verlag für Regionalgeschichte. Bielefeld 2005. 93 S. 9,90 Euro. ISBN 3-89534-614-4

Aus: Revista, Nr. 29, Dez./Jan. 2005/06, S. 23.