Vom Verschweigen zur Erinnerungskultur

Interview mit Reinhard Rohde zur Nachgeschichte des Massakers vom 8. April 1945

Der amerikanische Bombenangriff am 8. April 1945 und die deutschen Massaker an KZ-Häftlingen und den Folgetagen sind für Celle das bedeutsamste Ereignis in den 12 Jahren Nazi-Herrschaft. Erinnerungspolitisch ist es seit den 1980er Jahren aber auch ins Zentrum gerückt, weil es über 30 Jahre beschwiegen und verdrängt wurde. Über diesen Aspekt haben wir mit Reinhard Rohde gesprochen, der sich  über viele Jahre damit beschäftigt hat.

In den nächsten Wochen wird es erinnerungspolitisch um das Kriegsende 1945 gehen – in Celle dann auch um den Bombenangriff vom 8. April und die sich anschließende Hetzjagd und das Massaker an KZ-Häftlingen. Ist mehr zu erwarten als rituelles Gedenken?

Solche Tage sind heute nicht mehr Gegenstand gesellschaftlicher Polarisierungen wie in den 1980er oder 1990er Jahren. Anlass zu Auseinandersetzung bleiben sie weiterhin. Wir sollten uns aber klar darüber sein, dass nur Teile der Gesellschaft davon erreicht werden. Eine Mehrheit wird immer sagen, dass sie andere Probleme hat – was ja aus einer Alltagsbetrachtung heraus auch nicht ganz falsch ist.

Was ist das Besondere am Kriegsende in Celle?

Innerhalb nur einer Woche gibt es den größten Bombenangriff auf die Stadt. Es schließt sich das Massaker an geflüchteten KZ-Häftlingen an. Vier Tage später sind die Briten in der Stadt und weitere drei Tage später wird das Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit.

Und die Cellerinnen und Celler fühlen sich als Opfer?

Es gibt bei den Interviews, die Hanna Fueß in den ersten Nachkriegsjahren in den Landkreisgemeinden führt, tatsächlich diese Selbstviktimisierung. Die wird festgemacht am Bild plündernder und mordender DP's [Displaced Persons, also ehemalige Zwangsarbeiter*innen und befreite KZ-Häftlinge]. In der Stadt gibt es interessanterweise in der Öffentlichkeit kein Beklagen der Opfer des Bombenangriffs.

Wie das?

Die Cellesche Zeitung erscheint zwar bis zu ihrer Einstellung – kontrolliert durch die Besatzungsmacht – noch einige Wochen. Aber es findet sich kein Bericht zu Bombenangriff und Massaker. Und auch in den ersten Stellungnahmen des von den Briten eingesetzten Oberbürgermeisters Walther Hörstmann finden sich nur wenige Sätze zum Bombenangriff und nichts zu der Jagd auf KZ-Häftlinge. Das muss aber nicht unbedingt überraschen, weil die Bilder aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen, die nach der Befreiung um die Welt gehen, das Geschehen in der Stadt überlagern. Und hinsichtlich der eigenen Opfer gibt es angesichts dessen wahrscheinlich eine Scham, diese öffentlich herauszustellen.

Es schlossen sich Jahrzehnte des Verschweigens an. Wie konnte es dazu kommen?

Dafür gibt es unterschiedliche Erklärungen. Mit dem von den Briten in Celle durchgeführten Prozess in den Jahren 1947/48 gegen 14 Angeklagte waren Teile des Geschehens aufgeklärt. Es gibt aber Umstände, die eine Verankerung im Stadtgedächtnis erschwerten. Zum einen war die CZ zum Zeitpunkt des Prozesses noch verboten bzw. hatte keine Lizenz, so dass die Informationen nur über die Lokalberichterstattung in Hannoverschen Zeitungen zu bekommen waren. Dazu kommt eine Grundströmung der ersten Nachkriegsjahre: Wer in Partei oder Wehrmacht an den Verbrechen des NS beteiligt war oder nicht widersprochen hatte, musste darauf setzen, dass genau dies nicht thematisiert wird. Und jene wenigen Menschen, die Widerstand geleistet hatten, sahen sich dann in den 1950er Jahren ja auch schnell mit einem verfolgenden Antikommunismus konfrontiert. Zitieren wir mal Adorno: „Im Hause des Henkers soll man nicht vom Strick reden; sonst gerät man in den Verdacht, man habe Ressentiment."

Auch der Prozess selbst hat lange keinen Eingang in die lokale Geschichtsschreibung gefunden.

Das ist einfacher zu erklären. In den lokalen Archiven gab es keine Dokumente, nur ein paar Zeitungsartikel. Und leider hatte der Prozess auch ein anderes Format als z.B. die Belsen-Prozesse in Lüneburg. Die Prozessakten, die vor rund 10 Jahren aus britischen Archiven besorgt werden konnten, beinhalten keine Zeugenaussagen, sondern bestehen im wesentlichen aus Notizen und Zusammenfassungen des britischen Militärgerichts. Es ist nicht einmal ein schriftliches Urteil dabei.

Wie wurde der Prozess in der Stadtgesellschaft wahrgenommen?

Dazu lässt sich gar nichts sagen. Der Prozess hat ja in der Aula des KAV-Gymnasiums stattgefunden. Aber  mir ist nie eine Person begegnet und ich kennen auch keinen Bericht, der eine Anwesenheit von Bürgerinnen und Bürgern belegt. Ansonsten lässt sich mutmaßen, dass die Urteile als Siegerjustiz wahrgenommen wurden. Denn die meisten der Verurteilten waren Polizisten, was bei vielen unter der seinerzeit gern genutzten „Entschuldigung“ des „Befehlsnotstands“ abgehakt wurde. Zum anderen wurden alle Verurteilten, auch die mit lebenslänglichen Haftstrafen, spätestens bis 1952 wieder aus der Haft entlassen.

Bei dem Bombenangriff sind ja aber auch etwa 100 Celler Bürgerinnen und Bürger ums Leben gekommen. Wäre da nicht normal – wie in anderen Städten ja auch geschehen – eine Gedenkkultur zu entwickeln?

Bernhard Strebel hat 122 zivile Opfer registriert, darunter mindestens 10 Zwangsarbeiter. 1960 und 1970 ist in der CZ schon an die zivilen Opfer des Bombenangriffs erinnert worden. Im Jahr 1970 gab es in der CZ einen Artikel zum 25. Jahrestag mit der Überschrift „Bahnhof und Gasanstalt im Bombenhagel / Am 8. April 1945 blieb auch Celle nicht von einem Fliegerangriff verschont“, in dem aber die KZ-Häftlinge und das Massaker an ihnen mit keinem Wort erwähnt werden. Aber ja – eine Gedenkkultur entwickelt sich nicht. Die Begründung dürfte ziemlich einfach sein: Es wäre bei einem öffentlichen Gedenken schwer möglich gewesen, die eigenen Opfer zu betrauern, ohne das Verbrechen an KZ-Häftlingen zu erwähnen. Und genau das sollte ja nicht erinnert werden.

Interessanterweise ist auch bei den wenigen Leuten, die sich als Antifaschistinnen und Antifaschisten verstanden, keine Erinnerungskultur entstanden.

Ja. Ein Rätsel. Zumal auf dem Gräberfeld auf dem Waldfriedhof auch einige Widerstandskämpfer bestattet wurden, die im Zuchthaus gestorben sind. Es gab allerdings schon in den 1960er und 1970er Jahren gelegentlich Veranstaltungen auf dem Waldfriedhof, die aber nur selten ans Licht der Öffentlichkeit kamen. Trotzdem: Die DKP hat ab 1969 über anderthalb Jahrzehnte eine Lokalzeitschrift herausgegeben, die „Celler Welle“, in der die Jagd auf KZ-Häftlinge im April 1945 nie erwähnt wurde.

Auf dem Waldfriedhof gibt es aber seit den frühen 1950er Jahren ein Mahnmal. Wie kam das zustande?

Die Idee dazu kam von einem Gremium für politische Häftlinge. Für die Errichtung eines Ehrenmals hatten sie Spendenzusagen von Stadt und Landkreis in Höhe von je 10.000 Reichsmark. Es gab auch schon einen Entwurf, aber dann kam die Währungsreform und das Geld war – verkürzt gesagt – weg. Beauftragt war der hannoversche Bildhauer Ludwig Vierthaler. Der hatte auf zwei mal zwei Metern eine flache Pyramide vorgesehen, die auf ihren vier Seiten mit Reliefs bestückt werden sollte. Die Motive waren „Hunger/Elend“, „Trauernde Alte“, „Notgemeinschaft“ und „Krankheit“. Am unteren Rand der Pyramide war ein Schriftband vorgesehen mit dem Text: „DIE KZ-OPFER ERTRUGEN / VIEL LEID UND NOT / UND FANDEN UNVERDIENT / DEN BITTREN TOD.“

Da können wir ja fast froh sein, dass das nicht realisiert wurde.

Ja. Es macht schon deutlich, wie wenig der damals 70-jährige Vierthaler begriffen hatte, der ja durchaus kein Parteigänger der Nationalsozialisten war.

Danach kam dann das, was wir heute noch sehen.

Nach Beschwerden der VVN über den Zustand kam es zu einer Umgestaltung des Gräberfeldes, das seinerzeit „KZ-Quartier“ genannt wurde. Es kam zu den drei Holzkreuzen, einer neuen Bepflanzung und anschließend auch zu den einzelnen kleinen Grabsteinen.

Irgendwann wurde noch die Hauptgedenktafel ausgetauscht.

Bis 1985 war auf der Platte vor den Holzkreuzen zu lesen: „Den Opfern des zweiten Weltkrieges“. Angestoßen durch ein sogenanntes Bürgerkomitee wurde dieser Text ersetzt durch den immer noch vagen, aber stimmigeren Hinweis „Den Opfern der NS-Gewaltherrschaft“. Das Komitee wollte eigentlich eine Inschrift mit dem Text „Den Opfern des Transportes aus dem KZ Drütte“. Aber das wäre auch nicht korrekt gewesen.

Wieso das?

Bernhard Strebel hat verschiedene Aktenbestände akribisch ausgewertet und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass zwei Drittel der insgesamt ursprünglich 320 Häftlingsgräber dem Zug aus Drütte und den Ereignissen am 8./9. April zugeordnet werden können . Davon, so seine Einschätzung, waren 80% bis 90% im Verlauf der Hetzjagden und Massaker ermordet worden. Die Toten sind 1946/47 exhumiert und einer Autopsie unterzogen worden. Schuss- oder Kopfverletzungen sind dabei registriert worden. Weiter sind auf diesem Gräberfeld 51 ehemalige KZ-Häftlinge bestattet, die von Ende April bis November 1945 in Celler Krankenhäusern gestorben sind. Es gibt acht Umbettungen von KZ-Häftlingen, die auf Todesmärschen nach Bergen-Belsen ermordet wurden und zunächst einfach am Rande der Transportstrecken vergraben waren, z.B. in Winsen. Und es gibt 15 im Zuchthaus verstorbene Gefangene.

Ich habe mich gefragt, warum eigentlich mit den Holzkreuzen ein christliches Symbol als angemessen erachtet wurde?

Das ist schon interessant. Als das Geschehen Mitte der 1980er Jahre aufgearbeitet wurde, hatte sich unterschwellig eine Sicht etabliert, die bei den Opfern von Jüdinnen und Juden ausging. So kümmerte sich die Stadtverwaltung, als in den 1990ern eine Besuchergruppe mit Überlebenden des Transports in Celle war, um koschere Bewirtung – was Irritationen auslöste. Denn im Transport waren nur wenige Jüdinnen und Juden. Aber zu den Kreuzen: Ich denke, man hat einfach die Symbolik von Kriegsgräber-Anlagen übernommen, die sich schon nach dem Ersten Weltkrieg etabliert hatte und heute noch vom Volksbund Kriegsgräberfürsorge genutzt wird. Also auch nicht unproblematisch.

In der Gedenkkultur spielt das Gräberfeld keine große Rolle. Wie kommt das?

Hier und da schon. Als es 1983 in Celle die Auseinandersetzung um ein Treffen des „Stahlhelm – Kampfbund für Europa“ gab, also einer Vereinigung ehemaliger Stahlhelm-Angehöriger, die über das Bündnis der sogenannten Harzberger Front als ausgemachte Republik-Gegnern agierten und der NSDAP mit an die Macht verhalfen, fand u.a. eine Gegenveranstaltung am Gräberfeld auf dem Waldfriedhof statt. Und zwei Jahre später – das große Gedenkjahr 1985 – weihte der Stadtrat dort den mit neuer Inschrift versehenen Gedenkstein vor den Holzkreuzen ein. Aus den Reihen z.B. von DGB und VVN gab es dann in der Folge dort häufiger Gedenkveranstaltungen. Und nachdem auf Antrag der Ratsfraktion Die Linke/BSG vor fünf Jahren dort eine Info-Tafel installiert wurde, war die zentrale städtische Veranstaltung zum 8. April dann auch dort.

Dieses Jahr findet die Veranstaltung wieder am Mahnmal in den Triftanlagen statt. Wie findest du das?

Ich finde, dass es für jeden der beiden Orte gute Gründe gibt. Das Mahnmal in den Triftanlagen hat seinen Ursprung in der Geschichte der Aufarbeitung seit 1985 und ist das erinnerungspolitische Bekenntnis der Stadtgesellschaft zu den Verbrechen vom 8. April 1945. Als mit der kleinen Studie von Mijndert Bertram die Fakten wieder ausgegraben waren, hatten die Grünen dies 1989 im Stadtrat zum Anlass genommen, die Errichtung eines antifaschistischen Mahnmals zu beantragen. Erstaunlicherweise fand sich schnell eine Mehrheit unter Einschluss der CDU und es wurde ein künstlerischer Wettbewerb ausgeschrieben. Aber dazu gibt es in eurem Heft Nr. 84 eine ausführliche Darstellung.

Wie würdest du die geschichtswissenschaftliche und gesellschaftliche Aufarbeitung in den letzten 40 Jahren bewerten?

Es gab verschiedene günstige Konstellationen. Seit den frühen 1980er Jahren forderten ein gewerkschaftlicher Arbeitskreis „Grabe, wo du stehst“ eine Auseinandersetzung mit der Lokalgeschichte des Nationalsozialismus ein, was 1983 in einer eigenständigen Ausstellung mündete. Das hatte in Celle etwas von einem nachholenden Generationenkonflikt. Das hat in der Stadtgesellschaft auch dazu geführt, dass man das braune Image loswerden wollte, das die Stadt in ganz Deutschland hatte. Dass es nach Bertrams Arbeit und dem Mahnmal in den Triftanlagen keinen Schlussstrich gab, ist auch dem Umstand geschuldet, dass dieses Endkriegsverbrechen und das jahrzehntelange Verschweigen renommierte Historiker auf den Plan gerufen hatte, zum Beispiel Klaus Neumann („Shifting Memories“) oder zuletzt Daniel Blatman („Die Todesmärsche 1944/45“). Und die RWLE-Möller-Stiftung hat eine Rolle gespielt mit der erinnerungspolitischen Tagung 2006, und schließlich und sehr wichtig, dass die Stadt und die Gedenkstättenstiftung Bernhard Strebel mit einem Forschungsauftrag versehen haben („Celle April 1945 revisited“). Ich denke, dass andere Endkriegsverbrechen nicht so gründlich aufgearbeitet sind.

Und gesellschaftlich?

Das ist eine schwierige Frage. Wir haben in der Vergangenheit Beispiele gehabt, wie Schulen sich mit Projekten sehr intensiv und öffentlichkeitsorientiert mit dem Verbrechen auseinandergesetzt haben. Was da hängen bleibt für gesellschaftliches Engagement gegen Rassismus und Entsolidarisierung lässt sich schwer sagen. Für mich ist es ja bis heute so, dass ich sage: Die Befassung mit Nationalsozialismus hat bei mir immer dazu beigetragen, den Mund aufzumachen, wenn – allgemein gesprochen – Menschenwürde mit Füßen getreten wird wie zum Beispiel gerade an Europas Außengrenzen und in Griechenland.

Aus: revista. linke zeitung für politik und kultur in celle, Nr. 99, April/Mai 2020, S. 8-10. (383)