Verfolgt - vertrieben - vergessen. Die Geschichte der Juden in Celle

Celle vor 44 Jahren. Man schreibt den 8. April 1945. Ein relativ warmer Frühlingstag. Manche Städter sitzen auf den Dachgärten oder wandeln im Schloßpark, um die laue Luft zu genießen.
Da tauchen am Himmel plötzlich britische Bomber auf und ehe noch der letzte Spaziergänger einen rettenden Keller erreichen kann, haben die stählernen Vögel ihre gefährliche Last schon abgeworfen. Der Angriff galt dem Celler Bahnhof. Viele Häuser im Umkreis sind beschädigt. Auch einen Zug hat es schwer erwischt. Doch statt Kriegsmaterialien hatte er menschliche Fracht geladen - Häftlinge, darunter auch Juden, auf dem Weg nach Bergen Belsen.
Wer von den ausgemergelten Gestalten in den Viehwaggons noch die Kraft hat, nutzt das Chaos des Bombardements und versucht im Feuerhagel zu fliehen. Im Konzentrationslager Belsen erwartet die Menschen mit dem gelben Stern auf der Brust ohnehin nur der Tod.
Als die britischen Bomber abdrehen, herrscht binnen kurzer Zeit auf Celles Straßen wieder reges Treiben. Es gilt, den entstandenen Schaden zu sichten - und: eine regelrechte Treibjagd auf die entwichenen Häftlinge zu veranstalten. Angehörige der SS und der Wehrmacht, des Volkssturms, der Polizei und der SA, aber auch Feuerwehrmänner und Zivilisten greifen zu Knüppeln und Waffen und durchkämmen das Neustädter Holz.
Einen Teil der so zusammengetriebenen Häftlinge - offenbar jene, die zu entkräftet waren, um einen Fußmarsch nach Bergen Belsen anzutreten sperrt man in Baracken auf dem Gelände der Heidekaserne. Dort stoßen die Briten einige Tage später auf die sich selbst überlassenen völlig ausgehungerten Gestalten: ein Mikrokosmos dessen, was die Alliierten in Belsen erleben sollten. Völlig verblüfft zeigten sich die Bürger der Stadt Celle über die Existenz dieser einiger hundert Toter und Sterbender. Es war der traurige Höhepunkt und zugleich das Ende der Geschichte der Juden in Celle, einer Geschichte, die sich von der anderer Reichsstädte nicht sonderlich unterschied.
Mijndert Bertram, der im Auftrag der Stadt Celle die Stadtgeschichte seit 1913 erforscht, schilderte als wissenschaftlichen Zwischenbericht das Ende der jüdischen Gemeinde in Celle und stieß dabei auf so großes Interesse, daß manch ein Zuhörer nur noch auf den Treppenstufen der Synagoge Platz fand.
Dr. Bertram legte dar, wie der latente Antisemitismus seit dem letzten Drittel der 19. Jahrhunderts unter Einbeziehung der Rassenlehre wuchs und auch in Celle schon ab 1 920 erste offene Provokationen nach sich zog. So beschwerten sich am 6. Januar des selben Jahres Mitglieder der jüdischen Gemeinde über Handzettel antisemitischen Inhalts, die verteilt wurden oder an Hauswänden und Schaufenstern auftauchten und offen zu Gewalttätigkeiten aufforderten.
Der Verdächtige, ein Schüler namens Heinrich Giemenz, konnte jedoch nicht überführt werden. Später wurde Giemenz einer der berüchtigsten Celler SA-Führer. Ab 1922 hetzte die in Celle erscheinende Zeitschrift "Der Kämpfer" gegen Sozialdemokratie und Judentum, ein Jahr später häuften sich Schmierereien wie "Schlagt den Juden tot!" am Zaun des Bankdirektors Henry Ruben. Schon 1924 konnte sich die "Deutschvölkische Freiheitspartei" mit 7,5 Prozent der abgegebenen Stimmen zur Bürgervorsteherwahl zwei Mandate im Celler Rathaus erkämpfen. Ein Mandat ging an den Ingenieur Walter Pakebusch, der es während des Dritten Reiches bis zum Kreisleiter der NSDAP brachte.
"So war", wie Mijndert Bertram bemerkte, "das Feld des Antisemitismus längst bestellt, als mit den Nationalsozialisten schließlich die Vollstrecker de völkischen Bewegung an die Macht gelangten. Auch die Bereitschaft zur Gewalttätigkeit hatte sich schon vorher manifestiert."
Das bekamen auch die mindestens 71 in Celle ansässigen Juden zu spüren; eine heterogene Gruppe aus allen sozialen Schichten vom Senatspäsidenten Dr. Katzenstein am Oberlandesgericht bis zum Schuhmacher Fischel Gezelewitsch aus Polen. Ob sie es wollten oder nicht: plötzlich fanden sie sich in einer Schicksalsgemeinschaft zusammengeschmiedet, auch die Assimilierten unter ihnen.
Es gab elf selbständige und fünf angestellte Kaufleute, einen Lehrling, vier Rechtsanwälte, zwei Richter, einen Reisenden, einen Handwerker, einen Oberpostsekretär im Ruhestand und einen pensionierten Lehrer; eine Warenhausbesitzerin, eine Verkäuferin, eine Hausdame, eine Kontoristin, eine Stenotypistin und eine Vermieterin. Doch nur zehn bis zwölf Familien wurden zur eigentlichen jüdischen Gemeinde gerechnet.
Die Gesetzgebung nach dem 1. April 1933 drängte viele dieser Personen schnell aus dem [30] / Berufsleben und bis zum Ende des Jahres verließ fast ein Viertel die Stadt. Den Zurückgebliebenen wurde das Leben immer schwerer gemacht, auch wenn Celle als eine Stadt galt, in der man als Jude noch relative Schonung erfuhr.
Ab Mitte der 30er Jahre gaben viele jüdische Geschäftsleute auf, da Boykotte und ständige Bedrohungen auch in Celle ihre Wirkung zeigten. So verschwand das Herren- und Knabenbekleidungsgeschäft Süßkind in der Fritzenwiese, das Modewaren- und Aussteuergeschäft Wexseler in der Hehlentorstraße, das Kaufhaus Freidberg am Markte, das Manufakturwarengeschäft Roberg in der Zöllnerstraße und das Schuhhaus Löwenstein, ebenfalls dort gelegen. Nutznießer waren Celler Geschäftsleute, die Warenlager und ganze Geschäfte zu Billigstpreisen übernahmen.
Was bis jetzt noch nicht "arisiert" worden war, das ging spätestens nach der "Reichskristallnacht" in deutschen Besitz über - eine Nacht übrigens, an deren Legende die Celler Feuerwehr eifrig gestrickt hat. Es ist kein besonderes Verdienst, daß die Synagoge nicht in Flammen aufging, denn sonst wäre wahrscheinlich ein halber Stadtteil geopfert worden. Und was kein Raub der Flammen werden konnte, das kam dennoch unter die Äxte und Beile von Feuerwehrhand geschwungen.
Während das Mobiliar der Synagoge noch auf die Straße flog, waren Trupps zu den vier noch verbliebenen jüdischen Geschäften in der Celler Innenstadt unterwegs, um dort zu randalieren: Hellmann in der Mauernstraße, Salomon in der Poststraße, "Hasall" am Großen Plan und Wolf in der Zöllnerstraße. Eingeworfene Schaufensterscheiben, zertrümmerte Inneneinrichtungen, angezündete Ware - und schließlich noch eine völlig kaputtgeschlagene Kapelle auf dem jüdischen Friedhof Am Berge: das war das Bild in Celle am nächsten Tag. In ihrer Zeitung konnten die Celler dann vom "Ausbruch des spontanen Abscheus gegen die jüdischen Meuchelmörder' lesen. Doch der wahre Verlauf der Pogromnacht war den meisten bekannt. Nur wenige brachten jedoch die Zivilcourage dreier Anwälte auf, die aus Protest aus der SA austraten.
Den Schrecken der Nacht hatten die Celler Juden kaum überwunden, da stand schon die Gestapo vor der Tür und verhaftete alle jüdischen Männer und Jugendlichen. Sie kamen nach Sachsenhausen und wurden von dort nur noch einmal "beurlaubt", um - wie es die deutsche Gründlichkeit vorschreibt - ihre Geschäfte ordnungsgemäß aufzulösen.
Als die "Schutzhäftlinge" in Celle eintrafen, waren ihre Mißhandlungen nicht zu übersehen! Wer die Chance hatte, verließ das Land; die "Entjudung des Einzelhandels" konnte sechs Monate nach der Pogromnacht von Oberbürgermeister Meyer an die Gau-Leitung gemeldet werden. Die Spur der wenigen in Celle verbliebenen Juden verläuft sich oder endet in diversen Konzentrationslagern. Schon 1940 waren die jüdischen Einwohner in der Synagoge zusammengelegt worden. Ein innerstädtisches Ghetto entstand. Julius Wexseler war der letzte, der von dort aus 1944 den Weg nach Sachsenhausen antrat. Zu Kriegsende erklärte man ihn wie viele seiner Gemeindeglieder mit ungewissem Schicksal für tot.
Als sich 1945 die Tore des Lagers Bergen-Belsen öffneten, strömten noch einmal Juden nach Celle. Für kurze Zeit entstand eine neue jüdische Gemeinde von Menschen, die auf ihre Ausreise aus Deutschland warteten. "Von den Juden, die vor dem Krieg in der Stadt gelebt hatten, kehrten nur zwei zurück, um sich wieder hier niederzulassen, doch sie blieben nicht auf Dauer. Die Geschichte der Celler Juden fand keine Fortsetzung."

Aus: In Celle, 1989, S. 30 + 32