"... unsere große Zeit festzuhalten"

Im hohen Alter von 91 Jahren starb am 2. März 1977 Carla Meyer-Rasch. Als Schriftstellerin, die ihr Werk vor allem der Geschichte und den Menschen ihrer Heimatstadt widmete, als Schöpferin der "Celler Modespiele", aber auch wegen ihrer markanten Persönlichkeit ist sie bis heute unvergessen. Welchen Rang man ihr bereits zu Lebzeiten beimaß, geht nicht zuletzt daraus hervor, dass ihr 1973 als bisher einziger Frau das Ehrenbürgerrecht verliehen wurde.
Hier soll es nicht darum gehen, nachzuzeichnen, welch bemerkenswerter Lebensweg auf diese Weise gewürdigt wurde. Diesbezüglich gibt Carla Meyer-Raschs posthum 1985 erschienene Autobiografie "Das Bilderbuch meines Lebens" Auskunft. Allerdings weist dieses Selbstzeugnis nach eigenem Bekunden der Verfasserin eine Lücke auf.
"Ich habe immer gesammelt, geordnet und aufgehoben. So sammelte und notierte ich auch von 1933 an, machte mir Notizen, schrieb Tagebuch. Es sind ein Dutzend Akten, die ich jetzt aus dem Seitenfach meines Schreibtisches hervorgeholt habe, wo sie - was nach 1945 ja wichtig war - gut verborgen gelegen hatten. Dieses kleine Bilderbuch meines Lebens ist nicht der Platz, sie auszuwerten, wenn es dafür nicht überhaupt noch zu früh ist." Diese Zeilen wurden um 1965 geschrieben. Was aber war so brisant, dass Carla Meyer-Rasch zwanzig Jahre nach dem Ende des "Dritten Reiches" glaubte, es noch nicht veröffentlichen zu können?

Nachlass im Celler Stadtarchiv

Im Nachlass der Schriftstellerin, der im Celler Stadtarchiv aufbewahrt wird, finden sich 17 Konvolute aus der Zeit von 1933 bis 1945, das zu einer eventuellen späteren Verwendung bestimmt war. Größtenteils handelt es sich dabei um Zeitungsausschnitte, Broschüren und Fotos, die - nur vereinzelt mit kurzen Notizen versehen - zwar Aufschluss darüber liefern, welche Personen und Ereignisse die aufmerksame Beobachterin Meyer-Rasch beschäftigten, deren persönliche Sicht der Dinge aber nicht wiedergeben.
Zwei der angesprochenen Konvolute enthalten jedoch maschinenschriftliche Aufzeichnungen, mit denen die Frau, die sich als Celles Chronistin betrachtete, ihrer selbst gewählten Aufgabe nachkam, "unsere große Zeit festzuhalten in dem Kleinen, was ich hier erlebe!" Dabei beschränkte sie sich indessen nicht darauf, niederzuschreiben, was sie erfuhr oder aus eigener Anschauung wusste. Weit interessanter sind die Reflexionen, Wertungen und Schlussfolgerungen, die sie einfließen ließ. Sie ermöglichen es, die Auseinandersetzung einer nationalkonservativ gesinnten Vertreterin des deutschen Bildungsbürgertums mit dem Nationalsozialismus exemplarisch nachzuvollziehen. Dies macht die eigentliche, über das örtliche Interesse hinaus gehende Bedeutung der Texte aus. Wie also erlebte Carla Meyer-Rasch die Zeit des NS-Regimes, und wie dachte sie darüber? Folgen wir der Chronologie ihrer Aufzeichnungen.

Adolf Hitler als Hoffnungsträger

Gleich vielen Deutschen sah auch sie nach dem 30. Januar 1933 in Adolf Hitler einen Hoffnungsträger. Das Bündnis der Nationalsozialisten mit der Deutschnationalen Volkspartei und die Ernennung des dem Zentrum angehörenden ehemaligen Reichskanzlers Franz v. Papen, der sich in den Kreisen, in denen sie verkehrte, höchster Wertschätzung erfreute, zum Vizekanzler, schienen ihr die Gewähr dafür zu bieten, dass die neue Regierung trotz aller radikalen Parolen eine Politik betreiben werde, die den Vorstellungen des Bürgertums entsprach. In diesem Glauben wurde sie weiter bestärkt, als am 21. März 1933, dem "Tag von Potsdam, der greise Reichspräsident Paul v. Hindenburg dem bei dieser Gelegenheit in einen zivilen schwarzen Anzug gekleideten Hitler gewissermaßen öffentlich seinen Segen erteilte: "Das Bild, wie Hindenburg Hitler die Hand gibt und letzterer sich tief vor ihm beugt - das stand immer vor mir."
Allerdings konnte man vor dem Terror, den die braunen Machthaber entfaltetem, um jede Regung von Opposition zu unterdrücken, nicht die Augen verschließen. So erfuhr die Schriftstellerin, dass einige Leute in ein Konzentrationslager gekommen waren, weil sie ihr Radio abbestellt und dies auf Befragen damit begründet hatten, dass ihnen das Programm jetzt zu einseitig sei. Glimpflicher kam ein Celler Oberlandesgerichtsrat davon, der in einer Gesellschaft eine spaßige Bemerkung über die NSDAP gemacht hatte. Von einem Arzt deswegen denunziert, erhielt er aus Berlin die Aufforderung, sich hierzu zu äußern. Offenbar gelang es ihm, den Vorfall herunterzuspielen, denn die Sache wurde gütlich beigelegt.
Während der ersten Wochen der nationalsozialistischen Herrschaft kommentierte Carla Meyer-Rasch die von ihr geschilderten Vorgänge noch nicht, sondern begnügte sich damit, festzuhalten, wie sie in ihrem Bekanntenkreis aufgenommen wurden. Das liest sich beispielsweise so: "Im Anfang der Zeit der N.S.D.A.P., als man sich noch nicht klar gemacht hatte, dass es sich um eine richtige Revolution handelte, bei der nur das Recht des Stärkeren gilt, machten diese Ereignisse viel böses Blut." Bald schwang aber auch persönliche Betroffenheit mit: "Bei manchen der Herren des alten Regimes, die in ihrem Fach wirklich tüchtig waren und nun gehen müssen, tut es einem leid." Dabei dachte sie namentlich an den Leiter der Celler Freien Volksbühne, den Mittelschullehrer Heinrich Hüner, und an den der SPD angehörenden Zuchthausdirektor Fritz Kleist, der sich für einen humanen Strafvollzug und die Resozialisierung der Häftlinge eingesetzt hatte.
Die Diskriminierung einer ganzen Bevölkerungsgruppe fand dagegen ihre Zustimmung: "Wie uns die Juden geschadet haben, das kann ich immer wieder in künstlerischer und sittlicher Hinsicht belegen." Als Beispiel führte sie jedoch nur den lockeren Lebenswandel eines halbjüdischen Juristen aus Celle an und legte im Übrigen eine Inkonsequenz an den Tag, die sie mit vielen Deutschen teilte: "So richtig die Judenausmerzung im Prinzip ist, so tut es einem bei den einzelnen Fällen leid, wo man die Menschen kennt."
Ihr diffuser Antisemitismus äußerte sich auch in den folgenden Jahren immer wieder. Allerdings hielt sie das Vorgehen der Nationalsozialisten für zu rigoros, da es im Ausland eine feindselige Stimmung erzeugte, die nicht nur zu politischen Spannungen führte, sondern sich auch in wirtschaftlichen Sanktionen niederschlug. Wie sie sich die Lösung der Judenfrage dachte, notierte sie im Mai 1935: "Wenn wir uns mehr Zeit gelassen hätten, hätten wir sie in 10 - 20 Jahren wohl alle friedlich aus Deutschland herausbekommen, dadurch, dass wir sie einfach von jetzt an nicht mehr anstellten und ihnen nichts mehr abkauften." Ausmerzung hieß für sie also Auswanderung. Man wird kaum falsch liegen, wenn man hierin den Nachhall der Gedanken des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber zu vernehmen glaubt, den sie während ihres Studiums 1912 in München kennen gelernt und der einen tiefen Eindruck auf sie hinterlassen hatte.
Andere Maßnahmen des Regimes begrüßte sie hingegen voll und ganz - im Großen wie im Kleinen. So nahm sie zu der Anordnung, dass ab dem 1. Januar 1934 keine Briefmarken mit dem Abbild des sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert mehr benutzt werden durften, folgendermaßen Stellung: "Wir sind froh. Man pflegte sie auf den Kopf zu kleben, um seine Ablehnung gegen diesen Mann auszudrücken," Die militärische Aufrüstung Deutschlands, insbesondere die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht am 16. März 1935, begeisterte sie geradezu, und auch die Sterilisation körperlich oder geistig behinderter, alkoholkranker sowie als "asozial" eingestufter Personen nahm sie beifällig auf: "In diesem Punkt habe ich immer nationalsozialistische Ideen gehabt."

Zum Kreistreffen der NSDAP im Juni 1936

Mochte Carla Meyer-Rasch auch manche nationalsozialistische "Ideen" gutheißen, so stießen sie die gewaltsamen Methoden, derer sich das Regime bediente, und die vulgären Formen, in die es sich kleidete, jedoch mehr und mehr ab. Dementsprechend kommentierte sie ein Kreistreffen der NSDAP am 13. und 14. Juni 1936, zu dem die Partei den ihr eigenen Pomp entfaltete:
"Im Sommer 36 war hier großer Kreisparteitag, dazu war Celle so geschmückt, dass man es nicht wieder erkannte, solche Unzahl von Fahnen, solche Aufbauten und so schreiend in den Farben, dass man unsere schöne alte Stadt nicht wieder erkannte. [...] Jemand äußerte sehr richtig: ["]ohne Schutzbrille kann man sich nicht auf die Straße wagen". Die Zöllnerstraße war die schlimmste, sie trug den Namen: Blutstraße, war ganz dicht mit bis auf die Erde reichenden roten Fahnen behangen, sodass, wenn man an der Stechbahn stand, man von den Häuserfronten gar nichts sah! An die Mittelschule war ein riesiges Kopfbild von Hitler gemalt, ein Transparent, sehr ungeschickt, dass er wie ein Geköpfter aussah. Es war wirklich mit den Blutfahnen zusammen so grausig gespenstisch, dass man davor[!] hätte träumen können vor Entsetzen!"
Ein weiterer Zwiespalt, in dem die Schriftstellerin sich befand, entsprach einer weit verbreiteten Grundstimmung: Nach dem Denkmuster "Wenn das der Führer wüsste ..." war Hitler persönlich über jede Kritik erhaben und wurde für Leistungen wie etwa den Abbau der Arbeitslosigkeit bewundert. Das Regime, an dessen Spitze er stand, empfand man dagegen als betrügerisch, repressiv und bedrohlich, was sehr deutlich ein Spottvers aus Süddeutschland zum Ausdruck brachte, den Carla Meyer-Rasch aufschnappte:

"Lieber Gott mach mich stumm,
dass ich nicht nach Dachau kumm!
Lieber Gott mach mich taub,
dass ich all den Schwindel glaub!
Lieber Gott mach mich blind,
dass ich Goebbels arisch find!
Bin ich taub, stumm, blind zugleich,
pass ich gut fürs dritte Reich!"

Wenig später steigerte sich die Diskriminierung der Juden in Deutschland zu offenem Terror. Als Reaktion auf die Ermordung eines deutschen Diplomaten in Paris verwüsteten oder zerstörten Trupps der SA in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 reichsweit Synagogen sowie jüdische Geschäfte und Wohnungen. Auf Befehl Hitlers wurden außerdem Zehntausende jüdischer Männer und Jugendlicher festgenommen und in Konzentrationslager gebracht. Damit bezweckte die NS-Führung, den Druck zur Auswanderung auf die verhasste Bevölkerungsgruppe zu verstärken. Offiziell wurden die Ausschreitungen als Manifestation der empörten Volksseele ausgegeben. Carla Meyer-Rasch ließ sich aber nicht täuschen. Von zwei jüngeren Celler Rechtsanwälten, die der SA angehörten und die Vorkommnisse der "Reichskristallnacht" zum Anlass nahmen, unter Protest aus dieser Formation auszutreten, wusste sie, dass die Aktion angeordnet worden war. Hierin sah sie, selbst Tochter eines Juristen, einen Befehl zum Verbrechen, der das Ende des Rechtsstaates bedeutete, und rückte endgültig vom Nationalsozialismus ab.

Wahren Charakter des Regimes erkannt

Das stürzte sie erneut in ein Dilemma, als der Zweite Weltkrieg entfesselt wurde. Als glühende Patriotin hoffte sie auf einen deutschen Sieg. Andererseits wurde ihr der wahre Charakter des Unrechtsregimes immer deutlicher. Spätestens nachdem Hitler sich vom Reichstag bei dessen letzter Sitzung am 26. April 1942 die Vollmacht hatte erteilen lassen, als "Oberster Gerichtsherr" zu entscheiden, ohne an bestehende Rechtsvorschriften gebunden zu sein, war es auch mit ihrer Bewunderung für den Diktator vorbei. Die Entlassung fähiger Generale durch den "größten Feldherrn aller Zeiten" und die stetige Verschlechterung der militärischen Lage trugen ein Übriges zu ihrer Ernüchterung bei.
Dann kam das Ende. Die Besetzung Celles und der folgende unaufhörliche Durchzug britischer und amerikanischer Truppen führten ihr die schier grenzenlose zahlen- und materialmäßige Überlegenheit der Alliierten vor Augen. Jetzt wurde ihr klar, wie verbrecherisch es gewesen war, den längst verlorenen Krieg fortzusetzen, bis Deutschland völlig am Boden lag. In den Schmerz über die Niederlage mischte sich die Erleichterung, dass nun die Schrecken der fast täglichen Fliegeralarme vorbei waren. Etwa dreißig Jahre später, als sie sich noch einmal Rechenschaft über ihre Haltung während der Zeit des NS-Regimes ablegte, erinnerte sie sich an eine Szene, die sich in jenen Tagen abgespielt hatte:
"Ich hatte das Glück, dass in unserm alten Haus in der Küche noch ein großer Kochherd vorhanden war. Hier kochte ich nun mit all unsern Mietparteien, zu denen auch eine Studienrätin gehörte. Die erschien eines Tages mit ihrem Hitlerbuch: ["]Mein Kampf". Zwei dicke Bände. Die wollten wir verbrennen, weil sie große Angst hatte, dass der Besitz ihr schaden würde. In all unsern Häusern wurden ja damals von den feindlichen Truppen strenge Untersuchungen angestellt. Das Werk nun hier zu verbrennen, war nicht einfach. Die Besitzerin musste es mühsam zerreißen, alle Seiten und die festen Umschläge - aber das Feuer, das entstand, war recht gut. Wir kochten uns davon eine gute Graupensuppe, die dann uns allen ausgezeichnet schmeckte. Nun war Hitlers Kampf zu Ende - und meiner auch im Gedenken an die zwölf schlimmen Hitler-Jahre."

Autor/in: Bertram, Mijndert | 2002 | Aus: Sachsenspiegel 9/2002; Cellesche Zeitung vom 2.3.2002.

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