Mahnen um nicht zu vergessen

Celle (sha). 132 Maschinen der Neunten US-Luftflotte, ausgestattet mit 240 Tonnen Sprengbomben, im Anflug auf Celle. Der Güterbahnhof wird bombardiert. So geschehen am 8. April 1945. Noch heute, zehn Jahre nach seiner offiziellen Einweihung am 8. April 1992, soll das Mahnmal in den Triftanlagen an die Opfer dieses Luftangriffs erinnern. Es ist KZ-Häftlingen aus ganz Europa gewidmet, die in der Zeit vom 8. bis zum 12. April 1945 in der Herzogstadt zu Opfern des Nationalsozialismus geworden sind.Ein liegendes Quadrat aus Stahl, in dessen Mitte wächst ein Baum. So hatte sich Jonny Lucius aus Bad Neuenahr das Denkmal für die Opfer des Luftangriffs auf den Celler Güterbahnhof vorgestellt. Genauso kann es der Spaziergänger, der durch die Celler Triftanlagen flaniert, auch finden. 1991 wurde das Konzept zur Errichtung eines Mahnmals in Celle bundesweit ausgeschrieben. Mehr als 600 Bildhauer haben sich beteiligt. 281 von ihnen reichten Modelle ein. Da wurde der Jury unter Vorsitz des Direktors des Sprengel Museums Hannover die Wahl wirklich nicht leicht gemacht. Am Ende ging jedoch der erste Platz an Jonny Lucius. Der Arbeit wurden große Ernsthaftigkeit und Friedenswillen bescheinigt, der gepflanzte Baum in der Mitte als optimistisch-vegetativer Einschub gewürdigt.

Gegen 17.45 Uhr heulten die Sirenen

Die Wahl des Standorts, nämlich die Triftanlagen, und die Inschriften auf dem Mahnmal gehen auf Anregungen von Mijndert Bertram zurück. Als ehemaliger Direktor des Bomann-Museums hat er sich mit den Ereignissen des 8. April 1945 in Celle jahrelang beschäftigt und die Geschichte aufgeschrieben. Seine Texte sind in der Bomann-Reihe erschienen.
"Der 8. April 1945 war ein warmer Frühlingstag", sagt er. "Bis zu diesem Tag war Celle von Kampfhandlungen und Zerstörungen fast völlig verschont geblieben." Jedoch das sollte sich an jenem Apriltag ändern.
"Gegen 17.45 Uhr", so Bertram weiter, "heulten die Luftschutzsirenen der Stadt los." Drei Bombergeschwader der Neunten US-Luftflotte, insgesamt 132 Maschinen mit einer Last von nicht weniger als 240 Tonnen Sprengbomben, befanden sich im Anflug auf die Herzogstadt. Ihr eigentliches Ziel seien, so der Historiker, die Bahnanlagen im Bereich des Hauptbahnhofs gewesen. "Weil der Bombenschütze des Führungsflugzeugs diese Objekte jedoch nicht erkennen konnte, verlagerte er den Angriffsschwerpunkt weiter nach Süden, zum Güterbahnhof, wo er zahlreiche Waggons ausmachte."
Zur gleichen Zeit saßen zusammengepfercht in diesen 70 bis 80 Güterwaggons zwischen 4000 und 4500 völlig erschöpfte Männer, Frauen und Jugendliche. Sie sind aus verschiedenen Konzentrationslagern evakuiert worden und sollten in der letzten Phase des Krieges nach Bergen-Belsen verlegt werden. "Fast alle europäischen Nationalitäten waren unter ihnen vertreten", schildert Bertram die damalige Situation. Russen, Ukrainer, Polen sowie Niederländer, Deutsche und Tschechen seien unter den KZ-Häftlingen gewesen. "Das besonders Tragische an dem Angriff war, dass sich ein Zug voll mit Munition auf dem Nebengleis befand." Ungefähr die Hälfte der Gefangenen sei durch die Explosion getötet worden, vermutet Bertram. Die andere Hälfte versuchte sich aus dem brennenden Inferno zu retten und floh.

Flucht aus dem brennenden Inferno

Die Mehrheit der Flüchtlinge habe sich in Richtung Westen gewandt, von wo aus sie ein nahe gelegenes Waldgebiet ausmachen konnte, das Neustädter Holz. Doch einige von ihnen flüchteten auch in Richtung Innenstadt, was ihnen später zum Verhängnis werden sollte. Auf der Suche nach Schutz, Lebensmitteln und Kleidung seien sie vielfach in Keller, Geschäfte und Häuser eingedrungen. Doch die Celler hielten die ausgemergelten Gestalten in ihren gestreiften Uniformen häufig für Zuchthäusler und jagten sie fort. Nur einige wenige halfen den Flüchtenden. Auf viele von ihnen wartete aber der Tod. "Die überlebenden SS-Wachen des Transports hatten die Verfolgung der Gefangenen aufgenommen - und sie blieben dabei nicht lange allein."

Vereinzelt Zeichen von Humanität

Eine Gruppe von Polizisten sei der SS zugeteilt worden, um bei der Festsetzung der Häftlinge zu helfen. Aber auch Zivilisten, die mit der Sache eigentlich gar nichts zu tun hatten, seien an der von Zynikern als "Hasenjagd" bezeichneten Aktion beteiligt gewesen. "Unter der Maßgabe, dass jeder zu erschießen sei, der plündere, Widerstand leiste oder zu fliehen versuche, wurden wahllos Häftlinge niedergeschossen." Aber es gab auch Zeichen von Humanität und Mitleid. Mindestens neun Häftlinge seien im katholischen Sankt-Josef-Stift aufgenommen worden, wo sich Schwestern ohne Ansehen der Person um die Verletzten kümmerten.
Insgesamt seien, nach Schätzungen der Betroffenen, etwa 1100 Häftlinge wieder gefangen genommen worden. 30 von ihnen wurden als Plünderer hingerichtet. "Ungefähr die Hälfte der Übrigen setzte die SS zu Fuß nach Bergen-Belsen in Bewegung."
Die nicht mehr marschfähigen Häftlinge, etwa 500 an der Zahl, überließ die SS der Wehrmacht und kümmerte sich nicht weiter um sie. Sie wurden in Baracken auf dem Gelände der Heidekaserne eingeschlossen und ohne Nahrung ihrem Schicksal überlassen. Als sie schließlich am 12. April von den Briten befreit wurden, waren viele von ihnen bereits gestorben.
Die 162 Überlebenden wurden in einem Hilfslazarett, der heutigen berufsbildenden Schule, in der Bahnhofsstraße medizinisch versorgt. Von den rund 500 Häftlingen, die auf den Marsch nach Bergen-Belsen geschickt wurden, kamen ebenfalls nur wenige lebend dort an. "Wer unterwegs vor Entkräftung nicht mehr weitergehen konnte, wurde erschossen", erzählt Bertram über die Brutalität der SS-Schergen.

Befreiung durch die britische Armee

Die Übrigen erreichten schließlich am 10. April das Lager, in dem Hunger und Krankheit vielen den Tod brachten. Doch fünf Tage später, am 15. April, wurden auch sie endlich von der britischen Armee befreit. Um all diese Geschehnisse aus dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, sei vor zehn Jahren, 47 Jahre danach, das Mahnmal in den Triftanlagen errichtet worden. Das Denkmal befindet sich nur ungefähr 200 Meter entfernt von dem Ort, an dem 1945 die 162 überlebenden, halb verhungerten und völlig entkräfteten KZ-Häftlinge untergebracht und medizinisch versorgt worden sind.

Aus: Cellesche Zeitung vom 4.4.2002

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