Die Geschichte des Kriegsverbrechers Wilhelm Dörr. Eine Spurensuche

Ein Schuss in den Hinterkopf

Wolfgang und Carsten Gerz, Vater und Sohn, haben die Geschichte von Wilhelm Dörr aufgeschrieben. Dörr wurde am 2. Februar 1921 in Merenberg (Oberlahn) im heutigen Hessen geboren, er starb am 13. Dezember 1945, zum Tode verurteilt und hingerichtet wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Das familiäre und örtliche Umfeld Dörrs war schon vor 1933 als ein nationalsozialistisches zu bezeichnen. Bereits 1932 wurde er HJ- und später NSDAP-Mitglied. Nachdem die Wehrmacht ihn nicht genommen hatte, trat er im Dezember 1940 freiwillig in die SS ein. Er wurde wegen Rheumas "frontuntauglich" geschrieben und trat schließlich seinen Dienst beim 7. SS-Totenkopf-Sturmbann im KZ Sachsenhausen an. Hier machte er eine bescheidene Karriere bis zum Unterscharführer (entspricht einem Unteroffizier). Später wurde er in das KZ Mittelbau-Dora bei Nordhausen im Harz versetzt. Hier mussten KZ-Häftlinge in einer unterirdischen Anlage unter mörderischen Bedingungen Raketen, die sog. "V-Waffen", "Vergeltungswaffen", produzieren. In einem der Außenlager von Mittelbau-Dora, dem Lager Kleinbodungen, tat Wilhelm Dörr Dienst als stellvertretender Lagerleiter.
Dem grausamen Plan der SS folgend, bei näher rückenden Fronten keine KZ-Häftlinge lebend in die Hände der Alliierten fallen zu lassen, wurden auch in Kleinbodungen Vorbereitungen für die Ermordung aller dortigen Gefangenen getroffen. Dazu kam es letztlich aber nicht, warum muss offen bleiben, vielmehr erging der Befehl zur Räumung des Lagers und die über 600 Häftlinge wurden am 5. April 1945 in Marsch gesetzt mit dem Ziel Bergen-Belsen. Auf dem Marsch kam es an verschiedenen Orten zu einer Reihe von Morden an Häftlingen, die Wilhelm Dörr zuzuschreiben sind. Mit diesem Todesmarsch beginnt nun auch ein Kapitel Celler Lokalgeschichte, das aber, obwohl schon seit Jahren dokumentiert, in der hiesigen Öffentlichkeit nahezu unbekannt ist. (Siehe: "Todesmarsch durch Groß-Hehlen im April 1945. Die Waffen-SS ermordete KZ-Häftlinge". In: revista, Nr. 48, April/Mai 2010, S. 20-21.)
Am 10. April erreichte der Marsch Groß-Hehlen. Für das, was jetzt folgen sollte, stand den Autoren eine neue Quelle zur Verfügung: Das Kreisarchiv Celle vermittelte den Kontakt zu einem Groß Hehlener, der nicht nur für Gespräche zur Verfügung stand, sondern auch als Jugendlicher Tagebuch geführt hatte. In Groß Hehlen lagerte bereits eine Einheit der Wehrmacht und eine der Waffen-SS. Nachdem die Häftlinge aus der Marsch-Kolonne Quartier in einer Scheune bezogen hatten, forderte der örtliche Militärbefehlshaber die SS-Leute aus Kleinbodungen auf, den Ort mit den Häftlingen umgehend zu verlassen. Als dies abgelehnt worden war, wurden die Häftlinge von der Waffen-SS aus dem Ort bis nach Hustedt getrieben. Auf Häftlinge, die versuchten zu fliehen, wurde geschossen. Diese Morde schreiben die Autoren der Waffen-SS zu, nicht der Lager-SS um Dörr und seinen Vorgesetzten. Am nächsten Tag erreichte der Transport das KZ Bergen-Belsen. Die Anklagebehörde ging später von dreißig auf dem Marsch Erschossenen aus. Wilhelm Dörr wurde in Bergen-Belsen von der bri-tischen Armee nach der Befreiung des Lagers verhaftet und zusammen mit anderen in das Celler Gefängnis gebracht.
Am 17. September 1945 begann in Lüneburg der "Belsen Trial", der sog. "Belsen-Prozess". Dörr war einer von 44 Angeklagten. Im Prozess stritt er einfältig und uneinsichtig die ihm vorgeworfenen Taten ab, obwohl sie von zahlreichen Zeugen bestätigt wurden. Am 16. November wurden die Urteile verkündet: Dörr und zehn weitere wurden zum Tode durch Erhängen verurteilt. Die Hinrichtungen fanden in der Strafanstalt Hameln statt.
Bei dem Buch vom Wolfgang und Carsten Gerz handelt es sich um ein aufwendig und umfangreich recherchiertes, engagiertes Stück Heimatforschung. Und von der hat die professionelle Geschichtsschreibung immer wieder profitiert, besonders auf dem Gebiet der Lokal- und Regionalgeschichte. Die Autoren belegen ihre Er-gebnisse nicht durch einen "klassischen" wissenschaftlichen Apparat, sondern durch die eingewobene Schilderung der Recherchen und des Entstehungsprozesses des Buches. Dies bringt eine weitere interessante Ebene ein und macht die gewonnenen Erkenntnisse dann doch nachvollziehbar. Leider hat das Buch aber einige, vor allem "handwerkliche", Mängel: Das nicht sehr ansprechende Schriftbild und häufig auch die Wortwahl und eine Reihe ungeschickt wirkender Formulierungen lassen das gesamte Buch etwas "holperig" erscheinen, wenige historische Fehler, die aber die Rahmenhandlung und nicht die erzählte Geschichte betreffen, haben sich eingeschlichen, manche Daten wirken widersprüchlich oder lassen sich nicht oder nur schwer nachvollziehen. Dies ändert aber nichts am Wert des Buches.
Wolfgang und Carsten Gerz haben gelungen eine Täterbiographie nachgezeichnet. Aus dieser Perspektive, die ganz eigene Erkenntnisse gewinnen lässt, wird so ein Stück unerzählter Geschichte aus den unteren Rängen der NS-Hierarchie erzählt. Darüber hinaus erzählt das Buch unter Verwendung neuer Quellen mit seinen Beschreibungen der Vorkommnisse in und um Groß-Hehlen auch Celler Geschichte, so noch nicht geschildert und weitgehend unbekannt.
In der Einleitung fragen die Autoren: "Wie wurde in wenigen Jahren aus dem Menschen Wilhelm Dörr die Bestie Wilhelm Dörr?" Sie können diese Frage nicht beantworten und thematisieren dies auch. Sie stellen aber die Rahmenbedingungen dar, die eine solche Entwicklung möglich, nicht aber zwangsläufig, gemacht haben, wie z.B. das nationalsozialistische Umfeld, in dem Dörr aufgewachsen ist. Des Weiteren werden ihm "mangelnde Intelligenz" sowie Kälte und Brutalität attestiert, auch ist von ihm folgende Aussage überliefert: "Für die Juden ist eine Kugel zu schade, die schlagen wir mit der Eisenstange tot." Ein weiterer Aspekt ist diese Überlegung: "Den jungen Menschen wie Dörr war schon von Kindheit an eingetrichtert worden, dass der "deutsche Herrenmensch" über allen anderen Rassen und Völkern stehe; dass osteuropäische Volksgruppen und vor allem natürlich die Juden minderwertige Geschöpfe - sogenannte "Untermenschen" - sind und dass man sich an denen folglich nicht versündigen kann."
Letztendlich und abschließend werden sich die Fragen nach dem "wie" und dem "warum", das nach wie vor präsente "Wie konnte das alles nur passieren?", vielleicht nie beantworten lassen.

Das Buch wird im Rahmen des Heimatforschertreffens am 4. November um 19 Uhr im Kreistagssaal in Celle, Trift 26, vorgestellt.

Gerz, Carsten u. Wolfgang Gerz: Ein Schuss in den Hinterkopf. Die Geschichte des Kriegsverbrechers Wilhelm Dörr. Eine Spurensuche. Westernohe 2010. (Schreibwerkstatt SCHRIFT:gut, Hauptstraße 20, 56479 Westernohe, 164 S., 13?, ISBN 978-3-9813391-2-3)

Aus: revista. linke zeitung für politik und kultur in celle, Nr. 51, Nov./Dez. 2010, S. 24-25.