Geschichte verorten

Geschichte verorten

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Im Jahr 2002 wurde die Busspange zwischen Schlossplatz und Mühlenstraße in Richard-Katzenstein-Straße benannt.
Im Jahr 2002 wurde die Busspange zwischen Schlossplatz und Mühlenstraße in Richard-Katzenstein-Straße benannt.

Der Soziologe Alphons Silbermann befürchtet ein Verblassen der Erinnerung an den Holocaust. Eine von ihm gemeinsam mit Manfred Stoffers durchgeführte repräsentative Befragung hat jüngst ergeben, dass jeder fünfte Jugendliche nicht mehr weiß, "wer oder was" Auschwitz war oder ist. Ein Viertel der Befragten wusste Auschwitz geographisch nicht zu verorten.

Beginnt hier ein schleichender Prozess der Verlegung der nationalsozialistischen Verbrechen vom Irgendwo ins Nirgendwo? Seinem Plädoyer für eine Erinnerungsoffensive hat Silbermann ein Credo vorangestellt:

"Ohne Erinnerung keine Geschichte, ohne Ort kein Gedächtnis, ohne Gedächtnis keine Identität, ohne Öffentlichkeit keine Wirkung."(1)

Das Internetprojekt "Celle im Nationalsozialismus - ein virtueller Stadtrundgang" ist in seiner lokalen Ausrichtung ein kleiner Beitrag zu der von Silbermann angemahnten "Verortung". Deutlich soll werden: Die Vernichtung der europäischen Juden hatte einen Anfang auch in der unmittelbaren Nachbarschaft, Opfer und Täter wohnten in den Mauern dieser Stadt, und auch der Widerstand hatte seine eigenen Orte.

Seit einigen Jahren führt das "Archiv für neue soziale Bewegungen" regelmäßig antifaschistische Stadtrundgänge durch. Auftakt und Abschluss werden dabei in der Regel durch zwei offizielle Erinnerungsorte markiert, das wenig bekannte Mahnmal für die Opfer der sogenannten "Hasenjagd" des 8. April 1945 in den Triftanlagen und die Synagoge "Im Kreise". Der variable Weg führt dann vorbei an Gebäuden, in denen NSDAP, SA und andere Parteigliederungen wirkten, in denen Richter und Staatsanwälte als willige Helfer Hitlers agierten. Es wird Halt gemacht an Häusern, in denen die jüdischen Bürger wohnten oder ihre Geschäfte hatten. Und vor einigen wenigen Gebäuden können auch die Widerstandsbestrebungen von Teilen der Arbeiterbewegung geschildert werden.Bei den Führungen gab es immer drei Probleme: Nie konnten alle ausgearbeiteten Stationen angesteuert werden, allein aus Zeitgründen musste eine Auswahl getroffen werden. Einige wichtige Orte wie der jüdische Friedhof liegen zu weit vom Stadtzentrum entfernt oder sind - wie etwa das alte Gebäude des Hermann-Billung-Gymnasiums - abgerissen. Schließlich ist es nicht möglich, für all die Erzählungen die jeweiligen Quellen, Dokumente und alten Ansichten gleich mitzuliefern. Im virtuellen Rundgang wird all dies zugänglich gemacht. Über eine Vielzahl von Texten, Quellen und Dokumenten werden unterschiedliche Themen vertieft.

Was der Bildschirm aber nicht ersetzen kann, ist die Lebendigkeit der Kommunikation in der Gruppe, wo Fragen, Ergänzungen und Meinungen immer auch einen diskursiven Raum öffnen. Deshalb wird es den antifaschistischen Stadtrundgang auch weiterhin als "Reality"-Veranstaltung geben, in aller Regel am 1. September, am 9. November und am 8. April - dazu auf Wunsch für Gruppen an beliebigen anderen Tagen.

Der virtuelle Stadtrundgang richtet sich insbesondere auch an junge Menschen, die sich über die nationalsozialistische Vergangenheit ihrer Heimatstadt informieren wollen. Denn die Auseinandersetzung mit NS-Geschichte kann mit dazu beitragen, rechtsextremen Positionen, Auschwitz-Leugnern und Neonazis entgegentreten zu können.

(1) Alfons Silbermann und Manfred Stoffers: Auschwitz: Nie davon gehört? Erinnern und Vergessen in Deutschland. Berlin 2000.