Machtübernahme und Kommunalpolitik

Kommunalpolitik in der Endphase der Weimarer Republik

Mit der Kommunalwahl vom November 1929 war die SPD in Celle wieder stärkste Fraktion im Bürgervorsteherkollegium, dem Rat der Stadt, geworden. Sie stellte 13 Stadtverordnete (Bürgervorsteher), zu denen u.a. der damalige Verwaltungsstellenleiter des Metallarbeiterverbandes, Ernst Fricke, und als Fraktionsvorsitzender der spätere erste Nachkriegsbürgermeister, Albert Köhler, gehörten.
Die bürgerlichen Parteien - wie die "Deutsche Volkspartei" (DVP), die "Deutsch-Hannoversche Partei" (DHP), die "Deutsch-Nationale Volkspartei" (DNVP) u.a. - hatten sich zu einer gemeinsamen Liste, der "Liste Einigkeit", zusammengeschlossen, die 12 der 30 Sitze im Bürgervorsteherkollegium hielt.
Daneben waren ein bürgerliche Einzelabgeordneter, die Kommunisten Otto Elsner und Louis Schuldt sowie die Nazis Brandt und Willumeit im Stadtrat vertreten. (1)
Dem Bürgervorsteherkollegium stand gemäß der damaligen Gemeindeverfassung, der Hannoverschen revidierten Städteordnung von 1858, der Magistrat als verwaltende und ausführende Behörde der Gemeinde gegenüber. Der Magistrat nahm jedoch zusätzlich aus legislative Funktionen wahr, da in dieser "dualen" Verfassung wichtige kommunalpolitische Beschlüsse in beiden Kammern eine Mehrheit finden mußten. (2)
An der Spitze des Magistrats standen als Zeitbeamte der 1924 gewählte Oberbürgermeister Ernst Meyer (DVP), der 1921 zum besoldeten Senator ernannte Ernst Schädlich (SPD) und der 1927 gewählte Bausenator Mohr. Desweiteren gehörten dem Magistrat sechs für den Zeitraum einer Legislaturperiode gewählte, ehrenamtliche Senatoren an, von denen die SPD seit 1929 mit Ludwig Fuhrmann, Bruno Hempel und Karl Henneckens drei stellte. (3)
In diesem komplizierten politischen Kräftefeld gelang es am ehesten der Sozialdemokratie ihre kommunalpolitischen Ziele durchzusetzen, wobei sie in der Regel auf die Unterstützung von Teilen des bürgerlichen Lagers angewiesen war.
Als Beispiel sei hier der Bereich kommunaler Wirtschaftspolitik herausgegriffen, in dem die Gemeinden in besonderer Weise durch die Auswirkungen der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise gefordert waren, die auch in Celle zu einer andauernden Massenarbeitslosigkeit geführt hatte.
Trotz engen Spielraums kommunaler Wirtschaftspolitik, bedingt vor allem durch die finanzielle Notlage der Städte auf der einen, und die Richtlinien staatlicher Wirtschaftspolitik auf der anderen Seite, versuchte die SPD-Fraktion die vorhandenen Möglichkeiten krisenbekämpfender Maßnahmen auszuschöpfen. Das Kernstück sozialdemokratischer Konjunkturpolitik bildete dabei die Ankurbelung des kommunalen Wohnungsbaus, wo entsprechende Anträge der SPD die - allerdings wankelmütige - Unterstützung einiger bürgerliche Abgeordneter fanden. Gerade im am stärksten von der Wirtschaftskrise betroffenen Bausektor gelang es so, die durch den Rückgang des privaten Wohnungsbaus gefährdeten Arbeitslätze in gewissem Umfang zu erhalten. (4)
Staatliche Eingriffe in die kommunale Selbstverwaltung - insbesondere der Abbau des Haushaltsbewilligungsrechtes der gewählten Stadtverordnetenversammlungen durch die Notverordnungspolitik der Präsidialkabinette - beschnitten ab etwa 1931 den Einfluß der Parteien auf die kommunalpolitischen Entscheidungen erheblich. Die kommunale Selbstverwaltung war damit lange vor der Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten im März 1933 entscheidend geschwächt. (5)
Der Einfluß völkisch-nationalistischer und nationalsozialistischer Gruppen auf die Kommunalpolitik bis 1933
Noch bei den Kommunalwahlen des Jahres 1929 war es der NSDAP nicht gelungen, in den preußischen Gemeinden entscheidende Einbrüche zu erzielen. In den Städten mit über 20000 Einwohnern hatten die Nationalsozialisten im Durchschnitt nur 4,4 % der Sitze gewinnen können. (6)
In der Stadt Celle stützte sich die NSDAP bei dieser Wahl im wesentlichen auf das Potential der "völkischen" Wähler. Schon seit der Kommunalwahl 1924 hatte die "Deutschvölkische Freiheitspartei" mit 8,1 % der gültigen Stimmen zwei Bürgervorsteher stellen können. Die beiden völkischen Stadträte, von denen einer später Kreisleiter der NSDAP, Pakebusch, war, arbeiteten eng mit der Listenverbindung der bürgerlichen Parteien zusammen und konnten auf Grundlage dieser Zusammenarbeit mit dem Senator Drangmeister bis 1929 ein Magistratsmitglied stellen.
Die erstmals im Jahr 1929 in Celle zu Kommunalwahlen antretende NSDAP erzielte mit 6,9 % der gültigen Stimmen sogar ein geringfügig schlechteres Ergebnis als die DVFP 1924, gewann damit aber auch zwei Sitze im Bürgervorsteherkollegium. (7)
Die Politik der beiden NSDAP-Abgeordneten, Malermeister Willumeit und Fahrradhändler Brandt, war einerseits bestimmt durch die Unterstützung bestimmter Mittelstandsforderungen der bürgerlichen Fraktion, andererseits ging sie wegen des Fehlens kommunalpolitischer Zielvorstellungen selten über die Negation der bestehenden Verhältnisse hinaus.
"Ziel nationalsozialistischer Kommunalpolitik - wie der gesamten politischen Aktivität der Nationalsozialisten - war die Eroberung der politischen Macht. Ihm wurden alle anderen Erwägungen untergeordnet; die Zerstörung des bestehenden "Systems" galt als Voraussetzung für die Verwirklichung programmatischer Forderungen. Kommunalpolitik war für die Parteispitze Instrument im Dienst dieses Zielen und von vornherein nicht ortsbezogen." (8)

Die Gleichschaltung der kommunalen Selbstverwaltungsorgane

Schon wenige Tage nach der "Machtergreifung" durch die Nationalsozialisten löste Göring als stellvertretender Reichskommissar für Preußen und preußischer Innenminister am 4. Februar 1933 die bestehenden preußischen Gemeindevertretungen auf und schrieb Neuwahlen für den 12. März 1933 aus. (9)
Mit dieser Maßnahme verfolgten die Nazis das Ziel, so schnell wie möglich die in den kommunalen Vertretungskörperschaften bestehenden Mehrheitsverhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern. Die in den Gemeinden nach dem großen Wahlerfolg der Sozialdemokratie von 1929 vorhandenen Linksmehrheiten sollten als möglicher Störfaktor ausgeschaltet werden, um so das faschistische System auch auf lokaler Ebene abzusichern.
Die Kommunalwahlen, die in Celle dann am 12. März 1933 erfolgten, standen im Schatten der eine Woche früher stattfindenden Reichstags- und preußischen Landtagswahlen und zugleich unter dem Druck der Behinderung durch nationalsozialistischen Terror, der sich nach dem von den Nazis entfachten, aber von diesen den Kommunisten angelasteten Reichstagsbrand am 27. Februar völlig hemmungslos entfaltete.
Aber schon vorher wurde der Bewegungsspielraum der beiden Arbeiterparteien in erheblichem Umfang eingeschränkt, wobei den Notverordnungen vom 4. Und 28. Februar eine entscheidende Bedeutung zukam. Mit ihrer Hilfe konnte der politische Gegner ausgeschaltet werden, ohne daß der Rahmen der scheinbar legalen Machtergreifung hätte gesprengt werden müssen. Während die Verordnung "zum Schutz des deutschen Volkes" vom 4. Februar politische Versammlungstätigkeit und Pressefreiheit einschränkte und Gefängnisstrafen für die Teilnahme an verbotenen Versammlungen sowie für die Drucklegung und Verbreitung verbotener Schriften verfügte, wurden durch die Verordnung vom 28. Februar auch bestehende Grund- und Verfassungsrechte außer Kraft gesetzt und damit ein Ausnahmezustand geschaffen, der bis zum Ende des Dritten Reiches andauern sollte. (10)
[Die letzten großen antifaschistischen Demonstrationen fanden in Celle am 31. Januar statt. Nach Berliner Vorbild führten die Celler Nationalsozialisten an diesem Tag anläßlich der Machtübernahme einen Fackelzug durch. Nachmittags fanden die Gegendemonstrationen von SPD und KPD statt. Am Abend kam es vor dem NSDAP-Parteihaus zu Auseinandersetzungen zwischen Nationalsozialisten und einer großen Menge versammelter Arbeiter.] (10a)
[Als nächster Schritt folgten Beschlagnahmung, befristete Verbote und schließlich am 28. Februar 1933 das endgültige Verbot der kommunistischen "Niedersächsischen Arbeiterzeitung" und der Sozialdemokratischen "Celler Volkszeitung".]
Nach dem Reichstagsbrand begann auch in Celle eine Kette von Hausdurchsuchungen und Verhaftungen, die in erste Linie kommunistische Funktionäre trafen. Zwischen dem 1. und 3. März wurden insgesamt dreizehn Kommunisten festgenommen und verhaftet, unter ihnen der Bürgervorsteher und KP-Vorsitzende Otto Elsner. (11) Der zweite kommunistische Bürgervorsteher, der Anfang des Jahres für L Schuldt nachgerückte Hans Orth, wurde am 14. März zusammen mit vier weiteren Kommunisten verhaftet. (12)
Trotz dieser massiven Repressionen gegen die Arbeiterparteien brachten die Kommunalwahlen, die zugleich "Instrument der Machtübernahme wie äußerliche Legitimationsgrundlage" (13) sein sollten, den Nazis nicht den erhofften Erfolg.
Anstelle der absoluten Mehrheit erreichen sie in Celle nur die relative Mehrheit der Sitze und zogen mit vierzehn Braunhemden ins Bürgervorsteherkollegium ein.
Die weitaus größten Verluste an die NSDAP hatte die "Bürgerliste" zu verzeichnen, die nur noch vier der dreißig Sitze gewann (vorher dreizehn). Dazu kam der bürgerliche Einzelabgeordnete Kielhorn.
Das Lager der Arbeiterwähler hatte sich dagegen als im Kern stabil erwiesen. Die SPD stellte mit neun Abgeordneten die zweitstärkste Fraktion; die KPD erhielt wie in der voraufgegangenen Legislaturperiode zwei Sitze. (14)
Welche Richtung auf dem Rathaus in Zukunft eingeschlagen würde, war aber schon am 8. März hinreichend klar geworden worden, als bei einer Demonstration von SS, SA und Stahlhelm die Hakenkreuzfahne auf dem Rathaus gehißt wurde. (15) Die Duldung dieses symbolisch-propagandistischen Aktes durch die Stadtverwaltung bedeutete schon vor den Neuwahlen eine Art Kapitulation, zumindest aber das Eingeständnis der eigenen Schwäche. (16)
Da im übrigen damit zu rechnen war, daß sich die bürgerlichen Abgeordneten eher den Nazis als den Linksparteien anschließen würden, stand der Gleichschaltung von Stadtparlament und Verwaltung nicht mehr viel im Wege.
Schon bevor das neugewählte Bürgervorsteherkollegium das erste Mal zusammentrat, erzwangen die Nazis am 16. März den Rücktritt des Sozialdemokraten Ernst Schädlich, der als zweithöchster Verwaltungsbeamter praktisch die Funktion eines stellvertretenden Bürgermeisters ausübte. (17)
Zu weiteren personellen Veränderungen im Verwaltungsapparat der Stadt kam es zunächst nicht. Wenige Tage nach der Wahl schieden allerdings der Strafanstaltswachtmeister und langjährige sozialdemokratische Bürgervorsteher Kielhorn und der stellvertretende Direktor des Arbeitsamtes Rabe, ebenfalls SPD, aus dem Dienst aus. (18)
Während in den 51 Großstädten des Reichens über 100.000 Einwohnern nur acht Oberbürgermeister die Machtübernahme politisch überlebten, läßt sich für kleinere Gemeinden allgemein feststellen, daß die Nationalsozialisten dort, wo sie nicht die absolute Mehrheit erringen konnten, aus psychologischen und taktischen Gründen sich häufig damit begnügten, "nationale", "bürgerliche" oder zumindest "unpolitische" Gemeindeleiter im Amt zu belassen. In den preußischen Gemeinden mit 20.000 bis 50.000 Einwohnern blieben von 92 (Ober-)Bürgermeistern immerhin 53 im Amt, also 57,8 %. (19)
Celles Oberbürgermeister Ernst Meyer gehörte zu jenen, die im Amt verblieben. Er genoß die unumstrittene Unterstützung des Bürgertums und besaß für die Nazis zunächst wohl unverzichtbare Qualitäten als Verwaltungsfachmann. Da er sich zudem ihren Maßnahmen, wie z.B. der Flaggenhissung oder der Amtsenthebung Schädlichs nicht widersetzte, verzichteten die Nazis auf seine Ablösung.

Der Einzug der Braunhemden ins Rathaus

Auf der konstituierenden Sitzung des Bürgervorsteherkollegiums am 24. März 1933 - einen Tag nach Erlaß des Ermächtigungsgesetzes - kristallisierten sich die realen lokalen Machtverhältnisse deutlich heraus.
Da die NSDAP in Celle bei der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung nicht die erstrebte absolute Mehrheit erhalten hatte, mußte es das Ziel der NS-Funktionäre sein, mit anderen Mitteln maßgebenden Einfluß auf die Geschicke der Stadt zu gewinnen. Zu Hilfe kam ihnen dabei der Erlaß des Preußischen Innenministers vom 20. März, der kommunistischen Stadtverordneten die Ausübung ihres Mandats verbot, weil sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur KPD unter dem Verdacht des Hochverrats stünden.
Die beiden Celler KPD-Abgeordneten befanden sich zu diesem Zeitpunkt allerdings sowieso in Haft, was Oberbürgermeister Meyer einzig zu der Bemerkung veranlaßte, inwieweit sie "als Bürgervorsteher anzusehen seien, werde noch höheren Ortes entschieden werden." (20)
Nach dem Wegfall der KPD-Mandate sicherten sich die Nationalsozialisten mit den Stimmen der bürgerlichen Abgeordneten zunächst den Posten des Vorsitzenden des Kollegiums ("Worthalter") und damit - da dessen Stimme in Patt-Situationen den Ausschlag gab - die absolute Mehrheit. Die SPD-Fraktion beteiligte sich nicht an der Wahl des Rechtsanwalts Meiborg zum Worthalter des Bürgervorsteherkollegiums. (21)
Zur Kontrolle des Oberbürgermeisters wie des Verwaltungsapparates, der bis auf die Entlassung Schädlichs in seiner alten Zusammensetzung hatte übernommen werden müssen, wählte die jetzt sichergestellte NSDAP-Mehrheit noch am 24. März des Kreisleiter der NSDAP, Pakebusch, zum stellvertretenden Bürgermeister. Gleichzeitig war dies die erste Gelegenheit, sich durch Ämterpatronage altgedienten NS-Kämpfern erkenntlich zu zeigen.
Die Wahl des stellvertretenden Bürgermeisters verstieß übrigens - wie vieles andere, was die NSDAP-Fraktion in den ersten Wochen nach der lokalen Machtübernahme an Beschlüssen durchsetzte - gegen die Gemeindeverfassung, die für eine Stadt in der Größenordnung Celles eines derartigen Posten nicht vorsah. Dies mag auch ein Grund gewesen sein, weshalb sich die "Bürgerliste" bei der Wahl von Pakebusch der Stimmen erhielt: Die SPD votierte gegen den NSDAP-Funktionär. (22)
In der ersten Sitzung des Bürgervorsteherkollegiums kam es dann noch zur Wahl der sechs zu bestimmenden unbesoldeten Senatoren reichte dann allerdings auch die SPD - neben der NSDAP und der Bürgerliste - einen Wahlvorschlag ein. Neben drei Nazis wurden die Sozialdemokratischen Bruno Hempel und Karl Klemm sowie für die "Bürgerliste" der Fabrikbesitzer Schäfer in den Magistrat gewählt. Allerdings wurden nur die drei Nazis vom Lüneburger Regierungspräsidenten kommissarisch in ihre Ämter eingesetzt, "da eine Entscheidung über, die Bestätigung der von dem Bürgervorsteherkollegium gewählten unbesoldeten Magistratsmitglieder einer ergangenen ministeriellen Anweisung gemäß noch nicht erfolgen kann." (23) Neben Meyer saßen damit die Nazis Pakebusch, krüger, Schulze und Bötel im Magistrat der Stadt. Bausenator Mohr war seit Anfang des Jahres schwer erkrankt und schied am Ende des Jahres 1933 auf eigenen Wunsch aus dem Magistrat aus.
Eher propagandistischen Charakter trugen die auf der einführenden Sitzung gefaßten Beschlüsse zur Umbenennung der Bahnhofstraße in Hindenburgstraße und des Unionsplatzes in Adolf-Hitler-Platz gemäß eines NSDAP-Antrages, den auch die bürgerliche Fraktion unterstützte.
Das Klima, in dem die SPD-Fraktion hierzu ihre Ablehnung ausführte, beschreibt die Stimmungsschilderung eines CZ-Sitzungsberichts:
"Der Antrag wurde mit den Stimmen der NSDAP und der bürgerlichen Fraktion angenommen. Anschließend brachte Senator Pakebusch ein dreifaches Sieg-Heil auf Reichspräsidenten von Hindenburg und Reichskanzler Adolf Hitler aus, in das der größte Teil der Anwesenden kräftig einstimmte. Da die SPD nicht mitmachte, wurde im Publikum 'Pfui' und 'Raus' gerufen." (24) Am Schluß der Sitzung wurde "von einem Teil der Bürgervorsteher und des Publikums ... begeistert das Horst Wessel Lied gesungen." (25)

Ratshauspolitik im Schatten des Hakenkreuzes

Im Laufe des Monats April entwickelte die nationalsozialistische Mehrheit im Bürgervorsteherkollegium eine hektische Betriebsamkeit und verabschiedete einen Beschluß nach dem anderen. Vor allem in der Sitzung vom 6. April kam es zur Beschlußfassung über eine Reihe von Anträgen, die offenbar die Marschrichtung für eine künftig nationalsozialistisch ausgerichtete Kommunalpolitik bestimmen sollten.
Die zur Abstimmung gestellten NSDAP-Anträge sollten erklärtermaßen "den Wünschen der Handel- und Gewerbetreibenden und der bürgerlichen Schichten der Bevölkerung Rechnung tragen". (26) Die NSDAP, in deren Bürgervorsteherfraktion mit Akademikern sowie Vertretern aus Einzelhandel und Handwerk eindeutig das mittelständische Element dominierte (übrigens hatte keine Frau auf dem Wahlvorschlag der Nazis kandidieren dürfen), gaben dem Magistrat aus ausführender Stelle auf:
"bei den von der Wohlfahrtsfürsorge ausgegebenen Gutscheinen die Berechtigung zum Einkauf von Waren in Konsumverein, Warenhäusern und hiesigen Filialgeschäften auswärtiger Firmen auszuschließen";
"bei Anschaffungen für die städtischen Betriebe, Verwaltungsstellen und Körperschaften sowie für Vergebung von Aufträgen durch diese grundsätzlich jüdische Geschäfte, Filialgeschäfte auswärtiger Firmen, Warenhäuser, Konsumvereine und ähnlich organisierte Unternehmungen auszuschließen";
"Anschaffungen für städtische Verwaltungsstellen, Körperschaften und Betriebe grundsätzlich über ortsansässigen Geschäfte zu tätigen ... Grundsätzlich sollten nur deutsche Erzeugnisse bzw. Fabrikate angeschafft werden";
"von der Stadt zu vergehende Aufträge grundsätzlich nur an Celler Firmen ... zu vergeben". (27)
Mit diesen genuin nationalsozialistischen Maßnahmen wurde der Versuch gemacht, über die "Aufräumungsarbeiten" hinaus die eigenen Propagandaparolen zu realisieren: Bevorzugung ortsansässiger mittelständischer Unternehmen bei städtischen Aufträgen ('Kauft am Ort! - Parolen') bei gleichzeitiger Diskriminierung des jüdischen Einzelhandels ('Boykottaktionen'), der Warenhäuser und der sozialdemokratischen Konsumvereine, die allesamt eine starke Konkurrenz für den gewerblichen Mittelstand waren.
Die Abgeordneten der bürgerlichen Fraktion stimmte den Nazi-Anträgen vorbehaltlos zu.

Die Haltung der SPD-Fraktion gegenüber den neuen Machthabern

In gravierender Weise verkannten die lokalen SPD-Funktionäre noch im März die durch die faschistische Machtübernahme entstandene politische Situation. Geradezu anachronistisch mutet ein Kommunalwahlaufruf an, den die SPD am 8. März in der Celleschen Zeitung veröffentlichte. Detailliert gab hier die Rathausfraktion einen Tätigkeitsbericht über die in der vergangenen Legislaturperiode geleistete Arbeit. Mit keinem Wort geht die SPD dabei auf die drohende Eroberung der Kommunalparlamente durch die Nazis ein. Den Gipfel dieser Erklärung bildet dann eine Polemik gegen die KPD, deren Bürgervorsteher als 'aufgeblasene kommunistische Worthelden' diffamiert werden. (28)
Charakteristisch für die lokalen sozialdemokratischen Kommunalpolitiker mag die Haltung Ernst Schädlichs sein, der nach dem 30.Januar "mit stoischer Ruhe den Dingen, die nun eintreten würden" entgegenzusehen gedachte. (29)
So nahm dann die SPD-Fraktion trotz der in der konstituierenden Sitzung erlittenen Schmähungen an allen bis zum Verbot der Partei noch stattfindenden fünf Sitzungen geschlossen teil. Weigerte sie sich zunächst auch, der Politik der Nazis ihre Zustimmung zu geben, so verhielt sie sich schon bald als weit weniger konsequent. Bei der NSDAP-Antragsflut vom 6. April argumentierte die Fraktion z.B. auf einer rein formalen Ebene gegen die in den ersten beiden Anträgen angelegte Benachteiligung ihrer Konsumvereine und lehnte diese ab, während sie zu  den letztgenannten zwar Bedenken vor allem praktischer Art anmeldete, diesen aber schließlich zustimmte.
Die Haltung der SPD-Fraktion gegenüber den neuen Machthabern war insgesamt anscheinend von der realitätsfernen Hoffnung getragen, weiterhin durch Sachbeiträge die Beschlußfassung der Kollegiumsmehrheit beeinflussen zu können. Typisch für oben angeführte - wie auch für viele andere bis zum Juni vom Bürgervorsteherkollegium einstimmig gefaßten Beschlüsse - ist der Verzicht der sozialdemokratischen Stadtverordneten auf jegliche politische Argumentation. Sie beschränkten sich in ihrer Kritik der Beschlußvorlagen auf die in vierzehn Jahren erworbenen praktischen und formalen Kenntnisse der Verwaltungsarbeit.
Die damit in gewisser Weise zu beobachtende Anpassung der lokalen SPD-Parlamentarier an die Kommunalpolitik der Nazis ist zwar recht untypisch für sozialdemokratische Kommunalpolitiker, die häufig angesichts der realen Machtverhältnisse schon vor, spätestens aber nach der konstituierenden Sitzung des Stadtparlaments auf die Ausübung ihrer Mandate verzichteten, läßt sich aber aus dem damaligen Selbstverständnis der Partei ansatzweise erklären.
"Die Befangenheit in den traditionellen, in den Vorstellungen der Partei bewährten Kampfformen" führte u.a. dazu, daß "sich die SPD nur zum parlamentarischen Machtkampf auf dem Boden des Rechtsstaats bereitfinden konnte." (30) Dieses in der Partei weit verbreitete institutionalistische Denken in den Kategorien des Parlamentarismus und der rechtsstaatlichen Ordnung ließ auch für die lokalen Parteiführer die parlamentarische Opposition als wichtigstes Mittel gegen die Politik der Faschisten erscheinen.
Eine Opposition allerdings, die angesichts des fast unbegrenzten Organisationspatriotismus, der die Erhaltung der Organisationen der sozialdemokratischen zum Selbstzweck erhob, die opportunistische Annäherung an das nationalsozialistische Regime nicht ausschloß.
Am 22. Juni 1933 wurde die SPD verboten, ihre parlamentarischen Mandate in Reich. Ländern und Gemeinden wurden am 7. Juli für ungültig erklärt.

Durchsetzung des Führerprinzips in der kommunalen "Selbst"-Verwaltung

Ende des Jahres 1933 erfolgte dann mit dem Preußischen Gemeindeverfassungsgesetz vom 15. Dezember die endgültige Gleichschaltung von Staat und Gemeinden. Wie im Reich wurde jetzt auch in den Kommunen das Führerprinzip eingeführt, das dem Leiter der Gemeinde –in Celle dem Oberbürgermeister - die ausschließliche Verantwortung für Beschlußfassung und Ausführung, d.h. für die gesamte Verwaltung übertrug. Aus dem Magistrat und seinen Senatoren wurde ein dem Oberbürgermeister nachgeordnetes Kollegium von Fachbeamten. An die Stelle eines aus Wahlen hervorgehenden Bürgervorsteherkollegiums trat ein aus zwölf Ratsherren gebildeter Stadtrat, dessen Mitglieder - um die Mitwirkung der Partei zu sichern - auf Vorschlag des Gauleiters vom Regierungspräsidenten als der kommunalen Aufsichtsbehörde ernannt wurden. In diesem dem Oberbürgermeister lediglich zur Beratung beigegebenen Gremium erhielten der oberste örtliche Leiter der NSDAP sowie die rangältesten Führer der SA und der SS als geborene Mitglieder Sitz und Stimme, im übrigen sollte die Bürgerschaft in ihren Berufsständen entsprechend vertreten sein.
Genau zwei Jahre nach der Machtübernahme löste die "Deutsche Gemeindeordnung" als neue reichseinheitliche Gemeindeverfassung die "Hannoversche Revidierte Städteordnung" endgültig ab.
 

Anmerkungen:
1) Vgl. Sechster Verwaltungsbericht der Stadt Celle für die Jahre 1926 - 1955, Celle 1964, S. 25 f.
2) Vgl. ebd., S. 35
3) Vgl. ebd., S. 25
4) Vgl. Reinhard Rohde: Sozialdemokratische Kommunalpolitik in Celle 1919 - 1933, Hannover (MS) 1982, S. 82 ff.
5) Vgl. ebd., S. 87 ff.
6) Vgl. Horst Matzerath, Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung, Stuttgart 1970, S. 48
7) Vgl. Verwaltungsbericht, a.a.O., S. 25
8) Matzerath, a.a.O., S. 52
9) Vgl. ebd., S. 62 f.
10) Vgl. Karl Dietrich Bracher u.a.: Die nationalsozialistische Machtergreifung, S. 54 f. und S. 82 ff.
11) Vgl. CZ, 117. Jg., Nr. 54, 4.3.1933
12) Vgl. CZ, 117. Jg., Nr. 63, 15.3.1933
13) Matzerath, a.a.O., S. 64 f.
14) Ergebnisse aus: CZ, 117. Jg., Nr. 61, 13.3.1933
15) Vgl. Ernst Schädlich: Im Kreuzfeuer der Ereignisse. Erlebnisse eines Kommunalpolitikers 1914 –1948, Celle 1949, S. 100
16) Vgl. Matzerath, a.a.O., S. 66 f.
17) Vgl. Schädlich, a.a.O., S. 100 f.
18) Vgl. CZ, 117. Jg., Nr. 65, 17.3.1933
19) Vgl. Matzerath, a.a.O., S. 78 ff.
20) Vgl. CZ, 117. Jg., Nr. 72, 25.3.1933
21) Ebd.
22) Ebd.
23) CZ, 117. Jg., Nr. 83, 7.4.1933
24) CZ, 117. Jg., Nr. 72, 25.3.1933
25) ebd.
26) CZ, 117. Jg., Nr. 83, 7.4.1933
27) ebd.
28) CZ, 117. Jg., Nr. 57, 8.3.1933
29) Schädlich, a.a.O., S. 99
30) Helga Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Ein Überblick, München 1979 (9. Aufl.), S. 204 f.
31) Vgl. Matzerath, a.a.O., S. 105 ff

 Aus: Celler Zündel, Sonderheft Januar 1933 - Celle 1933 / Die Nazis an der Macht, S. 12-16