Geschichtspolitik kontrovers - Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, einen Blindgänger zu lieben

Celle steht ein geschichtspolitischer Streit bevor. Austragungsort: Die in unterschiedlicher Form von CDU und Bündnisgrünen vorgebrachte Idee, im so genannten "Torhaus" (siehe Foto unten) beim Neuen Rathaus eine Dokumentationsstätte zur Lokalgeschichte des Nationalsozialismus einzurichten. Anknüpfend an den jüngeren Gedächtnisboom, in dem deutschen Opfererinnerungen mediale Aufmerksamkeit widerfuhren, wollen Teile der CDU-Ratsfraktion scheinbar Celle und die Celler als "Opfer" ausstellen. Als Symbol dieser erinnerungspolitischen Rückwärtsrolle fungiert ein jüngst gefundener Blindgänger vom Bombardement des 8. April 1945. Wie scharf diese Bombe noch ist, wird sich in den kommenden Monaten erweisen. SPD und Bündnisgrüne zeigten sich in der letzten Kulturausschusssitzung jedenfalls auf der Hut - und wenig Bereitschaft, diese Bombe lieben zu lernen.

In den letzten Jahren ist in Celle bemerkenswertes geschehen im Umgang mit der nationalsozialistischen Geschichte der Stadt: beachtliche Forschungsarbeiten, eine vielfältige Erinnerungskultur und von kommunalpolitischer Seite her sogar die Änderung der an die Nazi-Täter Blanke und Meyer erinnernden Straßennamen. Daran anknüpfend hatten die Bündnisgrünen am 18. Oktober 2008 einen Antrag zur Erarbeitung einer Dauerausstellung gestellt:

"Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beantragt, ein Ausstellungskonzept samt Örtlichkeit zum Thema 'Celle im Nationalsozialismus' zu erstellen. [...] Bisher gibt es keinen Ort, in dem umfassend über die nationalsozialistische Herrschaft in Celle informiert wird. Antisemitismus und Rassismus, ideologische Grundpfeiler des Nationalsozialismus, stellen bis in die Gegenwart eine Gefährdung der Menschheit dar. Insbesondere für heranwachsende Generationen, die auch in den Familien keine Zeitzeugen mehr haben, kann solch ein Erinnerungsort von pädagogischer Bedeutung sein."

In der CDU verfolgt deren Ratsmitglied Wulf Haack seit längerem die Idee einer Dokumentationsstätte. Doch der am 4. November 2008 von der CDU-Fraktion gestellte Antrag ließ bei manchen eher Sorgenfalten entstehen:

"Im sog. Torhaus auf dem Gelände der ehemaligen Heidekaserne wird ein Dokumentationszentrum eingerichtet. Diese Ausstellung soll unter den Titel gestellt werden: "Der Nationalsozialismus und seine Folgen - Krieg, Gewalt und Verfolgung in Celle" [...] In einem Dokumentationszentrum im Torhaus auf dem Gelände der ehemaligen Heidekaserne könnten Zeitzeugnisse dargestellt werden. Nach neueren Forschungen (Bernhard Strebel "Celle April 1945 revisited" Seite 78) waren in einem Pferdestall auf diesem Gelände vom 8. bis 12. April 1945 Kz-Häftlinge ohne jede Versorgung untergebracht. Es handelte sich um Menschen, die den Bombenabgriff am Bahnhof und die anschließende Verfolgung überlebt hatten. Im Anhang der Veröffentlichung von Strebel sind Luftaufnahmen vom Güterbahnhof nach der Bombardierung und Aufnahmen von diesem Pferdestall enthalten. Diese Aufnahmen und weiteres Bildmaterial aus allen Lebensbereichen in Celle von Not und Leid in der Zeit von 1933 bis 1945 könnten in dem Dokumentationszentrum ausgestellt werden. Auch die im Rahmen der Straßenbauarbeiten am Güterbahnhof sichergestellten Zeugnisse des Bombenangriffs (Metallreste von zerstörten und zerfetzten Waggongs [sic!], Achsen, Schienen, Schwellen, Bombensplitter) könnten Verwendung finden. Schließlich könnten Dokumente, Plakate und insbesondere Berichte über persönliche Erfahrungen und Schicksale der in Celle lebenden Bevölkerung einen umfassenden Eindruck von Not und Grauen in unserer Stadt geben, als ständige Warnung vor Diktatur und Gewalt, Krieg und Verfolgung."

Die Bündnisgrünen wollen einen festen Erinnerungs- und Lernort zur Lokalgeschichte des Nationalsozialismus, über den auch Menschenrechts-Bildung vonstatten gehen soll. - Die CDU will Opfergeschichten, wobei das durchgängige Erzählmuster ist: Der Nationalsozialismus hat alle zu Opfern gemacht. Ein Folgeantrag lässt kaum noch Zweifel an dieser Absicht.

Im Februar 2009 war auf dem Gelände der ITAG eine 20-Zentner-Bombe gefunden und entschärft worden. Was in Hannover und anderen deutschen Städten eine seit Kriegsende regelmäßig wiederkehrende Übung ist, nämlich die weiträumige Evakuierung der Bevölkerung während der Entschärfungsprozedur, hatte in Celle einen Neuigkeitswert. Was seinen Grund vor allem darin hat, dass die Bombardierung des Güterbahnhofs (angesichts des einmaligen Charakters) eben gerade nicht zu einer das kollektive Gedächtnis prägenden Erinnerung gehört. Im Gegenteil: Die unzerstörte Altstadt wurde stets als das Besondere hervorgehoben. Trotzdem stürzte sich Wulf Haack, der seit längerem ein Faible für schrottreife Artefakte dieses einen Bombenangriffs auf die Stadt hat, geradezu auf den entschärften Blindgänger. Er ließ zunächst seine Fraktion beantragen, den Weg der Bombe auf den Schrottplatz durch Ankauf zu verhindern und sie "für ein Dokumentationszentrum in Celle" sicherzustellen. In der Begründung heißt es:

"Der 8. April 1945 ist ein furchtbarer Tag in der Geschichte der Stadt Celle. An diesem Tag fielen Bomben auf den Bahnhof und die nahe gelegenen Wohngebiete, ein Bombenteppich, dessen vernichtendes Ausmaß man sich kaum vorstellen kann. Heute erinnert im Stadtbild nichts mehr an diesen Angriff. Im Rahmen von Bauarbeiten wurden im Bereich der Borsigstraße bereits 2007 Fundstücke sichergestellt, die eine Ahnung vom Inferno vor über sechzig Jahren aufkommen lassen: Zerfetzte Schienen und Bahnschwellen, verbogene Radachsen, Waggonteile und Bombensplitter - es sind stumme Zeugen einer tödlichen ›Geschichte zum Anfassen‹. Diese Fundstücke sind auf dem Bauhof eingelagert. Der Blindgänger könnte nach Entfernung des Sprengstoffs mit den bereits geborgenen Fundstücken in einem Dokumentationszentrum integriert werden, in dem mit Fotos, Fundstücken und Zeitzeugenberichten der Bombenangriff auf Celle dargestellt wird."

Noch unmissverständlicher formulierte es ein in der CZ veröffentlichter Leserbrief: "Es ist endlich Zeit, auch in Celle der am 8. April gefallenen Mitbürger zu gedenken und zwar ohne die üblichen relativierenden, schulmeisterlichen Hinweise auf andere Geschehnisse". (CZ, 01.07.2009)

Nun müsste man gar nicht darüber streiten, ob man auch Bombenschrott in eine derartige Ausstellung integrieren kann - worüber man unbedingt streiten muss, ist die Geschichte, die damit erzählt werden soll. Die Begründung unterschlägt das, wenn auch nicht singuläre, so doch herausstechende Ereignis - nämlich das im Anschluss an den Bombenangriff stattfindende Massaker an KZ-Häftlingen. Dieses Kriegsendverbrechen ist der überregional bedeutende Teil des 8. April 1945 - und es ist eine Geschichte von ganz anderen Opfern und Tätern.

Die Kulturausschusssitzung kurz vor der Sommerpause hatte ihr Highlight dann darin, dass Haack einen von ihm mitgebrachten Bombensplitter durch die Reihen der Ausschussmitglieder wandern ließ. Und er bestand darauf, dass der Blindgänger als "unverzichtbarer Bestandteil" zur erforderlichen Visualisierung von "Not und Grauen in Celle" gehöre. Für Bündnisgrüne und SPD schien die Vorstellung, im Zentrum der Ausstellung eine 20-Zentner-Bombe platziert zu sehen, eher deplaziert. Woraus sie allerdings gleichzeitig ableiteten, dass der 8. April 1945 "nicht zu sehr in den Mittelpunkt zu stellen" sei. Da sah sich die CDU dann wiederum missverstanden; und Wulf Haack zeigte - so das Protokoll "für die CDU-Fraktion auf, dass die Gewalt des Nationalsozialismus mit der Reichskristallnacht beginne und mit der Flüchtlingsankunft ende." Spätestens hier war klar, dass es zu kurz greift, sich mit den bildungspolitischen Absichten gerade auf Schüler_innen stürzen zu wollen.

Immerhin hatte die Verwaltung ihre Arbeit gemacht: Sie schlug vor, das im Torhaus anzusiedelnde NS-Dokumentationszentrum als "internationales Lern- und Begegnungshaus" zu konzipieren. Als "bildungspolitischer Lernort" müsse es "die Entwicklungen und Geschehnisse der NS-Zeit in Celle in ihrer Gesamtheit darstellen und den Besuchern neben der Anschaulichkeit und Erlebbarkeit des Themas die Möglichkeit zu kritischer Reflektion bieten". Im ersten Schritt soll es um die "Erarbeitung einer fachlichen Expertise als Grundlage für ein Raumprogramm und Ausstellungskonzept" gehen. Dafür sollen 24.000 Euro in den Haushalt eingestellt werden. Die historische Expertise soll dann im Rahmen eines Fachworkshops auf ihre museale Umsetzbarkeit hin diskutiert werden. Parallel sollte ein Kostenrahmen für die bauliche Instandsetzung des denkmalgeschützten Gebäudes mit einer Brutto-Grundfläche von jeweils 340 qm in Erdgeschoss und Dachgeschoss erstellt werden. Dieser erste Schritt soll etwa ein halbes Jahr in Anspruch nehmen. Das wurde letztlich im Ausschuss so beschlossen. Für die inhaltliche und bauliche Detailplanung setzte die Verwaltung ein weiteres Jahr an, und Sanierung des Gebäudes, Umbau und Einrichtung würden noch einmal ein Jahr dauern.

Und auch Wulf Haack konnte sich am Ende freuen. Mit der Mehrheit der Ausschussstimmen von CDU und FDP wurde beschlossen, dass die Stadt den Blindgänger sicherstellt - wobei Haack zusicherte, die erforderlichen Kosten in Höhe von rund 1.200 Euro durch eine Spen-densammlung aufzubringen.

Für die Entschärfung des Blindgängers benötigte der Sprengmeister im Februar übrigens 35 Minuten; ob er geschichtspolitisch zu entschärfen ist, wird sich zeigen.

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8. April 1945  Warum geht der Amelung nicht einfach nach Hause?

"Die Wurzeln sind in den Verfolgern zu suchen, nicht in den Opfern, die man unter den armseligsten Vorwänden hat ermorden lassen", konstatierte Theodor W. Adorno 1966 in seinem Radiovortrag "Erziehung nach Auschwitz" In der deutschen Gedenk- und Ausstellungslandschaft hat dieser Ansatz kaum Niederschlag gefunden. Aber genau das könnte bei dem ambitionierten Celler Projekt zu einer Lokalgeschichte des Nationalsozialis-mus zum Dreh- und Angelpunkt gemacht werden: Warum ermordet ein Zivilist und gestandener Boxer wie Otto Amelung am 9. April 1945 wenige Tage vor dem absehbaren Ende des tausendjährigen Reiches wehrlose KZ-Häftlinge? Warum geht er nicht einfach nach Hause?

Auch wenn es über Jahrzehnte aus dem kollektiven Gedächtnis der Stadtbevölkerung verdrängt war: Das Massaker an KZ-Häftlingen im April 1945 ist ein Verbrechen, das sich in ähnlicher Weise zwar auch an-dernorts abspielte, aber für einen lokalgeschichtlichen Lernort dennoch das Zentrum der Erzählung bilden sollte. Von hier aus lässt sich viel Grundlegendes aufrol-len, wenn auch nicht alles erklären.

Vom 8. April 1945 aus kann zurückblickend dargestellt werden, warum der Häftlingszug auf dem Güterbahnhof stand, warum es überhaupt zwangsarbeitende KZ-Insassen gab und in welchem Konzentrationslager-system sie ausgebeutet und ermordet wurden. Es lässt sich erzählen, warum die Alliierten es für erforderlich hielten, mit dem Angriff auf den Güterbahnhof die Transportwege für die längst geschlagene Wehrmacht abschneiden zu müssen. Auch die deutschen Akteure geraten in den Blick: In welchen Formationen agierten die Täter und wer gab die Befehle? Wie verhielt sich die Bevölkerung? Und beim Blick in die Nachkriegsgeschichte stellt sich die Frage, wie das Verbrechen geahndet wurde und warum sich die deutsche Justiz kaum damit beschäftigte? Und vor allem: Wie konnte dieses Verbrechen über Jahrzehnte derart verdrängt werden?

Terror, Rassismus, Herrenmenschtum, totalitäre Öffentlichkeit, geplante Vernichtung - diese Elemente nationalsozialistischer Herrschaft gilt es über ihre Wirkung im lokalen Raum darzustellen. Dabei wären - wie Raul Hilberg vorschlägt - die Rollen von Täter, Opfer und Zuschauern zu betrachten. Es sollte deutlich werden, dass die Herrschaftsform des Faschismus nicht denkbar ist ohne die "Komplizenschaft" der Bevölkerung (Hannah Arendt), und im Falle des deutschen Nationalsozialismus eben von einer Bevölkerungsmehrheit. Er "integriert und privilegiert bestimmte Gruppen (und eben nicht nur eine enge Herrschaftsclique), so wie er andere ausgrenzt, ihnen einen minderen Status zuweist oder sie liquidiert." (Christoph Spehr) Wie lief diese "soziale Neuvermessung der Grenzen zwischen Menschen und Untermenschen" auf der Ebene einer kleinstädtischen Gesellschaft? Dass die seinerzeit mit dramatischer Geschwindigkeit verlaufende Verschiebung des "Referenzrahmens" nicht unwiederholbar ist, darauf hat der Sozialpsychologe Harald Welzer in seinen Arbeiten eindringlich hingewiesen.

Darum also müsste es gehen: Die Ausstellungsgestaltung auf die Frage zuzuspitzen, warum Otto Amelung nicht einfach nach Hause geht? Eine Möglichkeit wäre, über unterschiedliche Ebenen für Täter, Opfer und Zuschauer an exemplarischen Situationen deutlich zu machen, warum die einen zu Tätern wurden und die anderen zu Opfern gemacht wurden und wie sich die Komplizenschaft der Volksgemeinschaft herstellte. Von der Ausstellungs-Architektur könnte das Massaker vom 8. April 1945 tatsächlich ins Zentrum gerückt werden, um alle sich daraus ergebende Fragen auf der Erdgeschossebene zu behandeln. Der "Referenzrahmen" könnte über eine Galerie einen Ausdruck finden; auf dieser Ebene wären die Ein- und Ausschlussmechanismen zu thematisieren, mit denen die Volksgemeinschaft sich konstituierte und die Institutionen sich in den Dienst der NS-Herrschaft stellten. Von hier aus könnten an verschiedenen Punkten mit Treppen Verbindungen zu den Täter- und Opferaspekten der Erdgeschossebene geschaffen werden.

Das - in etwa - sollte der Anspruch sein, weil: Alles andere lässt sich zwischen zwei Buchdeckel pressen oder in regionalgeschichtlichen Unterrichtseinheiten herausarbeiten. Denn es ist eben nicht die Besonderheit von Exponaten, die eine Ausstellung in Celle rechtfertigen würde. Die Bombe ist insoweit tatsächlich ein Blindgänger. Die Besonderheit wäre, in der Nähe der Gedenkstätte Bergen-Belsen die Wirkmechanismen nationalsozialistischer Herrschaft in einer durchschnittlichen deutschen Kleinstadt zum Gegenstand zu machen.

Aus: Revista, Nr. 45, Sept./Okt. 2009

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