Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt nimmt der Umfang des Gedenkens an das Kriegsende zu. In Celle begann ein vierwöchiger Gedenkmarathon bereits am 8. April, dem Jahrestag des Bombenangriffs auf den Güterbahnhof und dem sich anschließenden Massaker an KZ-Häftlingen, und endete mit Veranstaltungen zum Kriegsende. Obwohl oder vielleicht gerade weil kontroverse Diskussionen weitgehend ausblieben, lohnt ein Blick auf die Formen lokaler Geschichtspolitik.
Bereits am 4. April stellte die RWLE Möller Stiftung den ersten Band der ‘Celler Hefte‘ vor, der sich mit der so genannten ‘Hasenjagd‘ beschäftigt und dabei im Kern die lokale Erinnerungspolitik kritisch diskutiert (siehe unsere Rezension in der letzten Ausgabe). Leider trat bei der Veranstaltung eher in den Hintergrund, was das Heft interessant macht: Die Frage, wie eine städtische Öffentlichkeit sich mit dem Verbrechen ihrer Großvätergeneration befasst oder eben auch nicht befasst, denn es bleiben in Celle Verbrechen ohne Verbrecher - die Auseinandersetzung mit den Tätern und ihren Motiven unterbleibt.
Für eine Stadt wie Celle hat die Lokalpresse ein enormes Gewicht für die öffentliche Wahrnehmung. Die Cellesche Zeitung berichtete zum 60. Jahrestag mit einer am lokalen Geschehen ausgerichteten Artikelserie, die voll auf der Haupttendenz Linie des diesjährigen Erinnerns lag, nämlich überall nur Opfer zu sehen. Michael Ende berichtete über den 8. April 1945 gestützt vor allem auf Zeitzeugenaussagen von CellerInnen, wobei die Schrecken des Bombenangriffs gegenüber dem Massaker an den KZ-Häftlingen in den Vordergrund traten. So ist dann nicht erstaunlich, dass die Kapitelüberschrift über diesen 6. Teil der Serie "Kriegsende vor 60 Jahren" lautete: ›Angriff auf Celle‹, und es in der Artikelüberschrift hieß: ›Fast 3000 Tote nach Luftangriff und Massaker‹.
Oberbürgermeister Biermann nahm diese Sicht auf, als er in der offiziellen Gedenkveranstaltung am Mahnmal in den Triftanlagen davon sprach, dass der Tod "nicht selektiere" (er meinte wahrscheinlich: "unterscheide") - und so verwies er in seiner Rede auch auf die etwa 800 Celler, die in den Stadtteilen Neuenhäusen und Neustadt in ihren zerbombten Häusern den Tod gefunden hätten. Er verband dies mit einer ›eingemeindenden‹ Fehldeutung. Das Mahnmal in den Triftanlagen sei, so Biermann, allen unschuldigen Opfern den Bombenangriffs vom 8. April und den Toten des mörderischen Treibens der darauffolgenden Stunden gewidmet. Nein, de facto weder von der Wettbewerbsausschreibung noch vom Text her: Nein.
Geschichtspolitisch katastrophal wurde es aber erst vier Tage später im Rathaus bei einer Erinnerungsveranstaltung an den 60. Jahrestag der Befreiung der Stadt durch die Alliierten. Biermann würdigte dabei die Rolle des seinerzeitigen Standortältesten, Generalmajor Paul Tzschöckell, als die eines mutig handelnden Mannes, der die Verteidigungslinie so weit von Celle weggelegt habe, dass die Stadt nicht unter Beschuss geraten sei. Tzschöckell ist aber ohne jeden Zweifel einer der Verantwortlichen für das Massaker an den geflüchteten KZ-Häftlingen. Im Mai 1950 berichtete er in der 'Hannoverschen Presse' unbefangen über seine Befehlsgewalt in der - wie er es nannte - "KZ-Angelegenheit". Und Bertram schrieb in der Ende der 1980er von der Stadt in Auftrag gegebenen Untersuchung: "... erfuhr, wie er sich einige Jahre nach den Ereignissen erinnerte, auch Generalmajor Tzschöckell ..., daß ein Transport mit den Insassen eines verlegten Zuchthauses getroffen sei und daß die Überlebenden sich mit den Waffen der gefallenen oder geflohenen Wachmannschaft ausgerüstet hätten und in der Neustadt plünderten und Gewalttaten verübten. Deshalb sei ein Einschreiten zur Wiederherstellung der Ordnung und Sicherheit dringend notwendig. Dergestalt alarmiert, gab der General einem Hauptmann den Befehl, mit einer aus Versprengten und SS-Leuten gebildeten Kompanie für Ruhe und Ordnung zu sorgen." Eine wahrnehmbare Aufregung gab's nicht - und so wäre es denn auch falsch, von einem geschichtspolitischen Skandal zu sprechen.

Auf kleiner Flamme skandalisiert wurde dagegen, was Provokation sein sollte: In der Nacht vor der Gedenkveranstaltung in den Triftanlagen wurde das Kriegerdenkmal am Ostende des Parks von Unbekannten mit gelber, roter und blauer Farbe "verziert" und mit der Aufschrift versehen: "Gestorben fürs Geld". Als ›Ehrenmal‹ für die Reserve-Infanteristen des Ersten Weltkriegs war es 1930 eingeweiht worden. Seit 1954 enthielt das Denkmal auch eine Gedenkplatte für die Gefallenen Wehrmachtssoldaten des Zweiten Weltkriegs. 75 Jahre lang konnte man auf dem Kopfband des runden Objekts lesen: "Den Toten zum Gedächtnis, den Lebenden zur Erinnerung, den kommenden Generationen zur Nacheiferung." Anfang April war ein Steinmetzrestaurator damit beauftragt worden, eine Änderung der Inschrift vorzunehmen, weil diese nicht mehr "zeitgemäß" sei: ›Nacheiferung‹ soll durch ›Mahnung‹ ersetzt werden. Ein bisschen Weichspüler macht selbstverständlich aber aus einem militaristischen Objekt kein Symbol des Friedens, sondern verweist nur auf die Unverfrorenheit jener, die heute mit Friedensfloskel Kriege führen. Insoweit hatte die Nachtschicht der ›Malerkolonne‹ einen unübersehbar aufklärenden Impuls.
Recht ambitioniert war ein Projekt der Celler Stadtkantorei. Mit Bezugnahme auf die Befreiung des KZ Bergen-Belsen am 15. April 1945 hatte sie sich mit dem französischen Chor und Orchester Gradus ad Musicam aus Nancy zu einem außergewöhnlichen Konzertprojekt zusammengetan: Zur Aufführung gebracht wurde das Oratorium "Le Chant des Rouleaux" des französischen Komponisten Pierre Cholley. Die gesungenen und gesprochenen Texte beruhen auf Aufzeichnungen, die Häftlinge in verschiedenen Konzentrationslagern auf Zettel geschrieben und für die Nachwelt vergraben hatten. Diese zu Röllchen (franz. Rouleaux) gedrehten Zettel gaben dem Oratorium seinen Namen.
Über die Ausstellung "Jüdisches Leben in Celle nach 1945" wird an anderer Stelle in diesem Heft berichtet. Hier sei nur kurz angefügt, dass die Ausstellung sich in den gewissermaßen nationalen Konsens einbettet, den Konflikten, die mit dem Neuanfang einhergingen, der Konfrontation von Tätern und Opfern, ausweicht.
Zum Jahrestag des Kriegsendes selbst organisierte der Celler Kirchenkreis schließlich eine achtstündige Lesung aus Walter Kempowskis Kriegstagebuch "Echolot - Abgesang ´45". Die Collage aus Tagebüchern und Briefen von Mitläufern, Tätern, Unschuldigen, Prominenten und Unbekannten lässt - so die Pressemitteilung der Veranstalter - "den Krieg als das erscheinen lässt, was er vor allem war: Menschenleiden." War er das vor allem? Zumindest fügt sich hier problemlos ein populäres Geschichtsbild ein - jenes von der Geschichte des "deutschen Leidens" im Zweiten Weltkrieg.
Ein bisschen skurril war schließlich noch die Debatte darüber, ob es ›angemessen‹ wäre, dass die Stadtverwaltung parallel zu den Gedenkveranstaltungen am 60. Jahrestag, einen verkaufsoffenen Sonntag zulässt. Auf der Mai-Veranstaltung des DGB nannte Niedersachsens IGM-Chef Meine das "instinktlos". Und in der Nacht vom 7. auf den 8. Mai wurden in der Innenstadt etwa 50 Plakate mit dem Text "60 Jahre Kriegsende und Celle kauft ein" und "Kein Vergeben kein Vergessen" mit dem Logo der antifaschistischen aktion verklebt. Die CDU hatte zu Beginn der Debatte erklärt, der 8. Mai stehe für die ›Befreiung von unmenschlicher Gewaltherrschaft‹ und das sei doch ein Anlass zur Freude, dem ein Geranienmarkt nicht widerspreche. Traurige Geranien (W. Borchert) zum Gedenken - das passt doch.

Aus: Revista, Nr. 27, Juni/Juli 2005, S. 3-4.