Von Haus und Geschäft blieb nur ein Koffer

Celle (kd). Damit die Geschehnisse der Reichspogromnacht nicht in Vergessenheit geraten, organisierte das Celler Forum gegen Gewalt und Rechtsextremismus gestern einen Aktionstag. Film, Theater, Gedenkstunde und eine Kofferaktion in der Innenstadt, erinnerten an die Grausamkeit der Judenverfolgung und appellieren zugleich an einen verantwortlichen Umgang mit Ausgrenzung in unserer Zeit.
"Ich stand in der Reichspogromnacht draußen, vor unserem Haus in der Mauernstraße 45. Das Geschäft von Berta Hellmann wurde zerstört, sie kam zu uns und hat später mit meiner Mutter die Textilien aus dem Laden einpackt und nach Hannover zu Verwandten gebracht. Mit ihren Kindern Emil-Jacob und Helene hat sie dann bei uns übernachtet", erzählte Ilse Berger zu ihren Erlebnissen vom 9. November 1938.
Die 1897 geborene Berta Hellmann floh im Februar 1939 mit ihren zwei Kindern vor den Nationalsozialisten nach Shanghai. Gestern erinnerte Ilse Berger mit einem Plakat vor dem Haus in der Mauernstraße 38 stehend an ihre frühere Nachbarin. Sie gehört der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes an. Neben ihr stand Monika Andresen, die einen alten Koffer mit einem gelben "Judenstern" trug und Passanten einen Handzettel mit Informationen zur Kofferaktion gab.
Vor dem Haus in der Poststraße 7 stand Walter Reccius (76) und "verkörperte" den 1878 geborenen jüdischen Kaufmann Oskar Salomon, der hier ein Schuhgeschäft hatte, bis Juli 1942 im "Judenhaus" im Kreise 24 leben musste und von dort mit seiner Frau Nanni nach Auschwitz deportiert wurde.
Walter Reccius erlebte die Reichsprogromnacht als zwölfjähriger Lehrersohn in der Magdeburger Börde. "Geht heute mal nicht in die Stadt", erinnerte er sich an die mahnenden Worte seiner Eltern an diesem Tag. Sie gehörten, so sagt er heute, der bürgerlichen Gesellschaft an, sie waren noch kaiserlich deutschland-treu und stark an Obrigkeiten orientiert. "Mir macht das heute zu schaffen, dass sie damals das politische Geschehen einfach erduldeten", meinte er nachdenklich.
"Diese Koffer sind ein Symbol für das Grauenvolle von damals. Sie sind das einzige, was den jüdischen Bürgern noch blieb und schließlich noch genommen wurde. Sie sind auch heute ein Symbol für das Unterwegssein vieler Flüchtlinge", sagte Udo Titgemeyer in der interreligiösen Gedenkstunde am Nachmittag in der Stadtkirche. Die Koffer standen dort mit den aufgeklebten gelben Sternen und den Namensschildern ehemaliger jüdischer Celler Bürger versehen als Mahnmale an beiden Seiten des Altarraums. Die Kirche war bis in die hintersten Reihen gefüllt. Vertreter und Besucher jüdischer, moslemischer, christlicher, buddhistischer Gemeinden und der Celler Yeziden waren in dem Gotteshaus zusammengekommen, um gemeinsam eine interreligiöse Gedenkstunde zu feiern. "Der 9. November ist ein Gedenktag für den nationalsozialistischen Völkermord", sagte Titgemeyer während der Veranstaltung.
Etwa 1200 Schüler sahen in der CD-Kaserne das Stück "Machtprobe", aufgeführt von der Theater AG der Berufsbildenden Schulen I. "Es war eine tolle Leistung der Theater AG, das Stück gleich zweimal hintereinander zu spielen", äußerte Wolf Wallat, der die Aufführung organisiert hatte. "Ich hatte erst keinen Bock zu kommen, aber es war toll. Wir werden da in der Schule bestimmt noch drüber diskutieren. Man muss schon verdammt aufpassen, dass man die Jugend nicht zu Falschem erzieht", meinte Carmen Nolte (18).
In einem Dialog erklärt Lehrer Zaphiro (Nina Kruse) seiner Gattin: "Jetzt ist Power im Laden, die Schüler gehorchen, das schafft ein Wir-Gefühl." "Ich würde bei so einer Aktion nicht mitmachen, wie es der Lehrer im Stück forderte", sagte die Zuschauerin Sabrina Lach (18) im Anschluss an die Aufführung.
Während des Experiments ist der "Looser" Olaf (Jens Cornils) der Folgsamste aus der Klasse, macht sich sogar zum Leibwächter seines Lehrers. Als der Lehrer zur Schulleitung zitiert wird, sind die Schüler empört, fürchten um ihr Forum neuer Ideen, kurz FNI. Im Streit um den weiteren Verlauf erschlägt Olaf seinen Mitschüler Wolf (Bastian Sidortschuk). Elmar Schönberndt (23) hielt die Handlung des Stückes für unrealistisch, ähnlich Benjamin Höber (19), der die Charaktere überzogen fand. "Ich vermute, viele wissen nicht die Bedeutung der 9. Novembers. Das mit den Außenseitern im Stück ist ja auch ganz aktuell", äußerte Lena Temeschinkos (19).

AusCellesche Zeitung vom 10.11.2001