Straßenumbenennung der Ernst-Meyer-Allee - Der Anfang und nicht das Ende einer Beschäftigung mit lokalen NS-Tätern?

In der letzten Sitzung vor der Sommerpause beschloss der Rat der Stadt Celle zum einen, die Ernst-Meyer-Allee umzubenennen, zum anderen die Ehrenbürgerschaften von Otto Telschow und Hans Kerrl abzuerkennen. Wir sprachen mit Reinhard Rohde über die erinnerungspolitische Dimension dieser Entscheidungen.

Ist die vom Rat Umbenennung der Ernst-Meyer-Allee ein Markstein in der lokalen Erinnerungspolitik?
Es ist zumindest das erste Mal, dass sich Lokalpolitik in Form von Rat und Verwaltungsspitze mit NS-Tätern beschäftigt und mit der Straßenumbenennung eine Konsequenz zieht.

Wie ist es zu dieser neuen Haltung gekommen?
Bis in die 1990er Jahre ist die Auseinandersetzung mit Tätern in der Bundesrepublik auf kunstvolle Weise verdrängt worden. Zunächst waren die Täter dämonisiert worden. Man konnte den Eindruck gewinnen, es habe sich um eine kleine kriminelle Clique gehandelt. Mit den Prozessen der 1960er Jahren entwickelte sich dann das Täterbild des interesselosen Bürokraten im Befehlsnotstand. Beides diente der Selbstentlastung. Nazis - das waren entweder die anderen oder solche, die nichts dafür konnten. Die Auseinandersetzung mit den Täterstrukturen der deutschen Gesellschaft hat bis in die 1990er Jahre eigentlich nicht stattgefunden. In Celle gab es ja - zugespitzt gesagt - mehr frei lebende Massenmörder in der Nachbarschaft als im Zuchthaus, ohne dass das als irritierend empfunden wurde. Unabhängig von der lokalen Ebene gibt es aber seit gut zehn Jahren in der Geschichtswissenschaft eine qualitativ neue Beschäftigung mit NS-Tätern. Und das hängt auch mit einem Generationenwechsel zusammen. Nach dem Ur-Opa kann eben ohne emotionale Verwirrung gefragt werden. Die Ratssitzung z.B. war äußerst schwach besucht, vor zehn, fünfzehn Jahren hätte man bei dem Thema noch ein volles Haus gehabt.

Die Erkenntnisse zu Ernst Meyer sind ja nicht wirklich neu, oder?
Ich weise in diesem Zusammenhang immer gerne darauf hin, dass die VVN/BdA schon im Herbst 1984 eine Umbenennungsaktion durchgeführt hat. Da wurde das Straßenschild "Ernst-Meyer-Allee" zur "Otto-Elsner-Allee" umgewandelt. Otto Elsner war in den 1920er Jahren in Celle KPD-Vorsitzender und Stadtratsmitglied und er hat während der Zeit des Nationalsozialismus einige Jahre in Gefängnis und Konzentrationslager gesessen. Und der Historiker Mijndert Bertram hatte in seiner 1992 veröffentlichten Stadtgeschichte eigentlich deutlich dargelegt, dass und wie Ernst Meyer sich nach 1933 den Nazis angedient hat und dass er keinesfalls als "entlastet" einzustufen wäre. Sybille Obenaus hatte dann 1996 mit einem Aufsatz zu dem jüdischen Geschäftsmann Robert Meyer einen von Bertram angerissenen Aspekt vertieft. Anhand vorhandener Akten über einen "Arisierungsvorgang" hat sie dem Celler Oberbürgermeister eine Mitverantwortung dafür zugewiesen, dass sich Robert Meyers Chance auf eine lebensrettende Emigration zerschlug. Also in der Tat: Nichts wirklich Neues.

Wie kam es dann aber im vergangenen Jahr dazu, dass die Frage auf einmal brisant wurde?
Einen ersten Anstoß hat aus meiner Sicht die Tagung der RWLE-Möller Stiftung zu "Erinnerungs- und Gedächtniskultur nach 1945 in Celle" im März 2006 gegeben. Dort wurde die Beschäftigung, oder besser die Nicht-Beschäftigung mit lokalen Täter zum Thema. Ich habe in meinem Beitrag z.B. darauf hingewiesen, dass die Biografien sowohl von Funktionären der NSDAP wie auch lokaler Verantwortungsträger untersucht werden müssten. Dabei ging es mir - dem Gedanken Adornos folgend - darum, dass man darüber etwas über die Mechanismen in Erfahrung bringen kann, die Menschen zu Tätern gemacht hatten. Und Klaus Neumann hat in seinem Vortrag darauf abgehoben, dass es darum gegen müsse, die Komplexitäten zu erfassen, die Menschen zu Tätern, zu Zuschauern oder zu Komplizen werden ließen. In den Diskussionen wurde dann die Frage nach der Verantwortung Ernst Meyers aufgeworfen. - Andrea Hackenberg von der "Celleschen Zeitung" hat diese Diskussion kurze Zeit später boulevardesk mit der Schlagzeile aufgenommen, Meyer habe Juden ins KZ geschickt. Dafür rief sie - bildlich gesprochen - Mijndert Bertram in den Zeugenstand. Der hatte gerade einen Aufsatz über die Rolle Ernst Meyers im NS für die "Celler Chronik" geschrieben. Darin waren im wesentlichen die Ergebnisse seiner "Stadtgeschichte" noch einmal zusammengefasst, aber er spitzte seine Bewertung Meyers u.a. in der Aussage zu, dass dieser- und ich zitiere mal - "einst für die Überführung von Gefangenen nach Auschwitz und anderen Lagern verantwortlich gewesen war und auch bei der mörderischen Treibjagd auf KZ-Häftlinge im April 1945 eine gewisse Rolle gespielt hatte." Bertram wollte auf die verwaltungstechnische Eingebundenheit Meyers in die Deportationen verweisen, also darauf, das dies in Teilen in seinem Verantwortungsbereich lag.

Im Museumsverein soll es heftigen Streit um die Veröffentlichung des Aufsatzes von Bertram gegeben haben?
Schon die Aufnahme des Aufsatzes in die "Celler Chronik" war - wie man hörte - strittig. Über den Zoff im Museumsverein selbst, der die Reihe herausgibt, hat die CZ berichtet, nicht aber darüber, dass es sogar zu einem Rechtsstreit gekommen ist. Und damit war wohl die nötige Fallhöhe endgültig erreicht: Auf Anregung von Oberbürgermeister Biermann wurde über den Münsteraner Historiker Hans-Ulrich Thamer ein Gutachten in Auftrag gegeben.

Ist bei diesem Gutachten Neues herausgekommen?
Thamer hat einen seiner Studenten, Daniel Droste, eine Magisterarbeit zum Thema schreiben lassen. Die gilt dann jetzt als das so genannte "Gutachten". Im Kern ist dabei Bertram bestätigt worden. Droste schreibt in seiner Bewertung: "Meyer war eigenverantwortlich agierender Handlungsträger und Stütze des Regimes auf lokaler Ebene, Komplize seiner Politik und Mittäter seiner Verbrechen." Er sei eingebunden gewesen in die Ausschaltung von Regimegegnern und mitverantwortlich für die durch die Stadtverwaltung betriebene gesellschaftliche Diskriminierung der Juden. Und weiter, ich zitiere: "Im Zuge der >Arisierungen< wurde er, aus eigenem Antrieb und autonom handelnd, selbst zum Täter und muss als Entscheidungsträger für den Tod Robert Meyers mitverantwortlich gemacht werden. Als Organisator des Arbeitseinsatzes der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter während des Krieges war er auch an diesem nationalsozialistischen Verbrechen intensiv beteiligt, und schließlich kann auch seine Beteiligung an dem als >Celler Hasenjagd< in die Geschichtsbücher eingegangenen Massaker an wehrlosen KZ-Häftlingen als gesichert betrachtet werden."

Man hörte, das Gutachten sei auch nicht ganz unumstritten gewesen?
Der in Celle lebende emeritierte Verwaltungsrechtsprofessor Werner Thieme hat sich mit einer Kritik an den Oberbürgermeister gewandt, woraufhin sich Thamer nachdrücklich hinter die Arbeit seines Studenten gestellt hat. Thiemes Kritik bemüht eigentlich alle Stereotypen für die Entlastung der Eliten: die besondere Situation von Spitzenbeamten, die Schlimmeres hätten verhüten wollen, wofür sie sich mit öffentlichen Zustimmungen zur Nazi-Ideologie hätten tarnen müssen; die Abschaffung des Rechtsstaats und die Gefährdung durch die Gestapo usw.. Das hat tatsächlich mit dem Forschungsstand nicht mehr viel zu tun, was Thamer in seiner achtseitigen Antwort auch aufzeigt. Typisch ist bei Thieme dann noch, dass er seine Zeitzeugenschaft ins Feld führt. Er habe Meyer als Nachbar der Familie noch persönlich erlebt und empfinde das Bild von ihm völlig verzeichnet. Dazu zitiere ich mal Thamer: "Konsequent befolgt, wäre das beliebte Zeitzeugenargument das Aus für jede historische Forschung und jedes historische Verstehen, denn schließlich waren meine Kollegen aus der Mittelalterforschung auch nicht mit Barbarossa in Italien und schreiben unentwegt über ihn."

Du bist ja aber auch nicht in allem "glücklich" mit dem Gutachten?
Einschränkend muss man immer sagen, dass es eine Magisterarbeit ist, also der enge zeitliche Rahmen zu berücksichtigen ist. Trotzdem ist es schade, dass neuere Arbeiten zur Täterforschung nur marginal von Droste berücksichtigt wurden. Die Frage etwa, warum handelt der Meyer so, gehörte nicht zu seinem Erkenntnisinteresse. Und richtig ärgerlich finde ich persönlich die seitenlange - mal salopp gesprochen - "Anpisserei" von Bertram, die sich weder von seinen eigenen Ergebnissen her, noch angesichts seiner eigenen handwerklichen Mängel rechtfertigen lässt. Aber das ist noch mal ein anderes Thema.

Welche Bedeutung hat die ganze Diskussion für die lokale Erinnerungskultur?
Erstmal ist es ja Geschichtspolitik. Stadtrat und Oberbürgermeister haben sich mit ihren Entscheidungen dahingehend positioniert, dass auch lokale Eliten während des Nationalsozialismus verwerflich handeln konnten und man das nicht entschuldigen muss. Und wenn man Biermanns Rede ernst nimmt, müsste dies der Anfang und nicht das Ende einer Beschäftigung mit den Tätern sein. Denn in der Frage der Straßenbenennungen hat er selbst die Latte hoch gelegt, wenn er hierfür das Verhalten in den Jahren 1933 bis 1945 zum wichtigsten Beurteilungskriterium macht. Und damit sind dann geschichtspolitisch auch die Straßenbenennungen nach Heinichen, Blanke, Meyer-Rasch, Fuess, Haesler, von Fritsch zu diskutieren.

Uns überrascht ein bisschen die Rolle von Oberbürgermeister Biermann.
Ja. Biermann ist ja als persönlicher Referent von Wilfried Hasselmann in die Politik eingestiegen, den man zur alten "Stahlhelm-Fraktion" der CDU rechnen musste. Von daher kann man überrascht sein. Aber die Verurteilung des Nationalsozialismus gehört inzwischen zum Wertekanon der Republik. Nur lässt sich das, wie man bei Fischer/Scharping im Kosovo-Krieg sah, fast beliebig instrumentalisieren. Und wenn Biermann gegen Meyer ins Feld führt, dass Menschen ihre Existenz durch die Entscheidungen eben dieses Verwaltungschefs verloren hätten, fällt uns sofort die Härte Biermanns im Fall der Abschiebung der Familie Vdovenko ein. Vielleicht wird er ja seine Ermessenspielräume künftig anders nützen.

Nebenbei wurden vom Stadtrat ja noch die Ehrenbürgerschaften von Telschow und Kerrl widerrufen. Was ist davon zu halten?
Auch ein später Erfolg der VVN/BdA. Gertrud Schröter hatte das in den 1980ern schon gefordert. Unter Oberstadtdirektor von Witten wurde argumentiert, dass das Ehrenbürgerrecht mit dem Tod erloschen sei. Das sieht man, glaube ich, im Rathaus immer noch so, aber wollte jetzt auch hier einen distanzierenden Schnitt.

Nachtrag: Das Gutachten ist als pdf verfügbar unter http://www.celle.de/media/custom/326_187_1.PDF?La=1&object=med|326.187.1

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[In einem Kasten wurde auf folgendes hingewiesen:]

Distanzierung von Nazi-Ehrenbürgern gefordert

Vor einigen Wochen wandte sich die 'Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes' (VVN) mit einem Appell an den Celler Stadtrat. Dieser wird aufgefordert, den beiden Nazi-Größen Hans Kerrl und Otto Telschow die von der Stadt Celle im Hitler-Faschismus verliehenen Ehrenbürgerschaften abzuerkennen, sie aus dem Ehrenbürgerbuch zu streichen und sich von der Verleihung dieser Ehrenbürgerschaften zu distanzieren.

In einem allen Ratsfraktionen zugestellten Schreiben heißt es als Begründung: "In den meisten Städten und Gemeinden der Bundesrepublik sind inzwischen Hitler und alle anderen Nazi-Größen die Ehrenbürgerschaften aberkannt worden. In unserer Stadt sind bis zum heutigen Tage eingetragen: Hans Kerrl, von Hitler zum Justizminister ernannt; Otto Telschow, NS-Gauleiter für den Gau Celle-Harburg und seit 1933 Mitglied des preußischen Staatsrates. Weder der eine noch der andere sind Celler Bürger. Noch haben sie auch nur im entferntsten ein Verdienst an unserer Stadt. Dagegen haben sie uneingeschränkt an der grausamen Gewaltherrschaft der Nazis mitgewirkt. Bergen-Belsen, Bergen-Hörsten und Wietzendorf, heute alles Gedenkstätten in unserer unmittelbaren Nähe sind stumme Zeugen dieses unmenschlichen Terrorregimes, über 12oooo Menschen aus 40 Nationen wurden hier unter schrecklichen Bedingungen zu Tode gequält, verhungerten, wurden erschossen oder erschlagen. Zu den Befürwortern dieser furchtbaren Vernichtung unschuldiger Männer, Frauen und Kinder gehörten auch die beiden von Antisemitismus und Faschismus durchdrungenen Ehrenbürger der Stadt Celle."

Während CDU und Wählergemeinschaft es nicht einmal für nötig hielten, den Eingang des VVN-Schreibens zu bestätigen, bat die SPD um Verständnis, in dieser Sache nicht im Sinne der VVN tätig werden zu können.

Die FDP antwortete: "Auf Ihr Schreiben darf ich Ihnen heute mitteilen, daß wir Ihren Hinweis bezüglich der Ehrenbürgerschaft ehemaliger NS-Führer von der Verwaltung überprüfen lassen. Sollten Ihre Hinweise richtig sein, sind auch wir der Auffassung, daß diese wohl unter politischem Druck verliehenen Ehrenbürgerbürgerschaften aufgelöst werden müssen." In einem Nachsatz verarbeitet die FDP dann im gleichen Schreiben noch die Informationen, die sie von der Verwaltung erhielt: "Wie ich soeben erfahren habe, besteht bei der Stadt Celle kein Ehrenbürgerbuch. Die damals ausgesprochenen Ehrenbürgerschaften sind mit dem Tod der Betreffenden erloschen."

Daß die beiden Nazis inzwischen Tod sind, weiß auch die VVN. Was gefordert ist, bleibt eine politische Distanzierung von der Verleihung der Ehrenbürgerschaften. Doch das ist scheinbar schon zuviel.

Aus: Celler Zündel. Kommunale Monatszeitschrift, H. 4/1984, S. 32

 

Aus: Revista, Nr. 36, Nov./Dez. 2007, S. 5-7.