Das konservative Milieu in Celle Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik

In einer interessanten neuen Studie mit dem Titel "Das konservative Milieu" geht Frank Bösch der Frage nach, wie sich der Konservatismus in norddeutschen protestantischen Milieus entfaltete und entwickelte. Als Untersuchungsräume hat der Göttinger Historiker die Städte Greifswald und Celle ausgewählt, der Untersuchungszeitraum ist abgesteckt durch die Vorläufer des konservativen Milieus im Kaiserreich, seine eigentliche Konstituierung gegen die Weimarer Republik, den Wandel im Nationalsozialismus, sein Ende im Greifswald der DDR und seine parallele Renaissance in der Bundesrepublik, bis hin zur Erosion in den 1960er Jahren.
Auch wenn in der Celler Region - bedingt durch die die Annexion des Königreichs Hannover durch Preußen im Jahr 1866 - bereits Ende des 19. Jahrhunderts eine eigene konservative Vereinswelt entstanden war, sieht Frank Bösch das konservative Milieu insgesamt als ein "Kind der Revolution von 1918/19". Die Abwehrhaltung gegen diesen demokratischen Umbruch sorgte für eine zunehmende Verdichtung der konservativen Deutungsmuster. Die Sehnsüchte des Bürgertums richteten sich auf soziale Harmonie, eine autoritäre Ordnung und nationale Geschlossenheit.

Ausgiebig widmet sich Frank Bösch der Vereinswelt, die insbesondere in der Zeit der Weimarer Republik zur Konstituierung des konservativen Milieus beitrug. Die Gegenwelt, die man sich hier in den Jahren nach dem verlorenen Krieg aufbaute, hatte in ihren Formierungsprinzipien Ähnlichkeiten mit den Milieus der Sozialdemokraten oder der Katholiken, die über ihre Vereinswelt für eine starke Einbindung in die Gesinnungsgemeinschaft sorgten. Im einzelnen beschreibt der Autor die Wirkweise der Heimat- und Kriegervereine, und er analysiert die Turner-, Sänger- und Frauenvereine des konservativen Lagers.
Als ungemein wirkmächtig erwiesen sich im Celler Raum die in den 1920er Jahren entstehenden Heimatvereine. Auf vielen Wegen, z.B. über die Einrichtung von Museen wie dem "Vaterländischen Museum" in Celle, wurde ein antimodern-agrarromatisches, großstadtfeindliches und "stammesbewusstes" Denkmuster verbreitet. Kleinste Einheit dieses Denkens war der eigene Hof, weniger unter Gesichtspunkten des Raums als der Zeit. Die lokale Verwurzelung bildete den Gegenpol zum Internationalismus der Sozialdemokratie. Gestützt auf den zu einer Kultfigur erhöhten Hermann Löns wurde aus der Landschaft der Lüneburger Heide ein regionaler Volkscharakter abgeleitet, der weitgehend dem konservativen Ideal entsprach. Eine Massenbasis aber schuf das vielfältige Netz der Kriegervereine. In der Stadt Celle wuchs ihre Zahl bis 1930 auf 18 Vereine in der Stadt und rund 50 im Landkreis Celle. Allein die im Kyffhäuser-Verband zusammengeschlossenen Vereine hatten rund 3500 Mitglieder. Gemeinsam war allen das Eintreten für die Werte und die Gesellschaftsordnung des Kaiserreiches. Den sozialdemokratischen Topoi von Solidarität und Brüderlichkeit wurden bei den Kriegervereinen "Kameradschaft" und "Treue" gegenübergestellt.
Ein gemeinschaftsstiftender Bezugspunkt war die schwarz-weiß-rote Fahne des Kaiserreiches, die demonstrativ gegen das Schwarz-Rot-Gold der Republik 'hochgehalten' wurde: "Stets setzte das konservative Milieu bei seinen Feiern allen Ehrgeiz daran, die ganze Stadt in ein schwarz-weiß-rotes Fahnenmeer zu verwandeln. Die Wahl der Fahne wurde somit für jeden Bürger zu einer Scheidegrenze. Während die 'Flaggen-raus'-Aufrufe auch bei kleineren Vereinsfeiern häufig befolgt wurden, kam die Bevölkerung .. der offiziell eingeforderten 'Schwarz-Rot-Gold'-Beflaggung am Verfassungstag nicht nach. Reichsbanner und Arbeiterchöre zogen hier durch die Straßen, während der Oberbürgermeister und andere Honoratioren es weitestmöglich ablehnten, zu derartigen Gelegenheiten als Redner aufzutreten." (74)
Neben Parteien und der Vereinswelt waren auch gesellschaftliche Institutionen wie Kirche, Presse oder berufsständische Organisationen von gewisser Prägekraft für das konservative Milieu. Die von der protestantischen Kirche geleistete weltanschauliche Sinnstiftung war - insbesondere auch im Vergleich zu katholischen Milieus - in Celle bei weitem nicht so wichtig wie die Lokalpresse, die in Gestalt der 'Celleschen Zeitung' zu einer zentralen Stütze des Milieus wurde. Unkommentiert übernahm sie einerseits in dem 1920er Jahren die Artikel der konservativen Vereinswelt, während sie andererseits das Vereinsleben der Arbeiterbewegung schlicht ignorierte. Letztlich konnte man beim Lesen der CZ den Eindruck gewinnen, "daß in und um Celle nur die harmonische, allseits positiv gewürdigte Welt des konservativen Milieus existiere, die lediglich marxistischen Bedrohungen von außen zu trotzen habe." (103)
Bekanntlich hat das konservative Milieu keine Schranken gegenüber dem Nationalsozialismus errichten können. Bösch kommt vielmehr sogar zu dem Ergebnis, dass es maßgeblicher Katalysator für den Aufstieg der NSDAP und die Zerstörung der ungeliebten Republik anzusehen ist. Ihre rasanten Wahlerfolge habe die Hitler-Partei vor allem erringen können, weil sie sich an das weltanschauliche und kommunikative Netz des konservativen Milieus anlehnte. Die NSDAP galt wegen ihres milieuadäquaten Auftretens als Schwesterpartei der konservativen Parteien DNVP, DVP und DHP. Bösch konstatiert einen doppelten Annäherungsprozess, wobei die NSDAP für das Milieu endgültig mit der Wirtschaftskrise wählbar wurde. Der Celler Handwerkerbund etwa rief 1932 dazu auf, "probeweise nationalsozialistisch zu wählen". Die wichtigste Unterstützung aber erhielt die NSDAP von den Kriegervereinen: ?Ihr stets artikulierter Wunsch nach militärischer Aufrüstung, der Revanche für Versailles und der Errichtung eines autoritären Militärstaates erhielt in der Wirtschaftskrise einen neuen Nährboden, auf dem sich die NSDAP entfalten konnte." (126)
Die Machtübergabe an die Nationalsozialisten löste in weiten Teilen des konservativen Milieus Begeisterung, zumindest aber Hoffnungen aus. Angesichts dieser Aufgeschlossenheit sah die NSDAP in Celle keine Notwendigkeit, die wichtigsten gesellschaftlichen Repräsentanten auszutauschen. Landrat, Oberbürgermeister und der Oberlandesgerichtspräsident behielten ihre Posten: "Offensichtlich gewährte die engere NSDAP-Führung dem konservativen Milieu zunächst breite Zugeständnisse und erhöhte so die Akzeptanz des neuen Staates beträchtlich. Die Annahme, daß die NSDAP die traditionelle Organisationsstruktur des ländlichen Raumes aufgebrochen habe, kann somit keineswegs pauschal gehalten werden." (137) Der Göttinger Historiker geht weiter davon aus, dass gerade jene, die von den konservativen Parteien kommend noch 1933 in die NSDAP eintraten, anfangs den neuen Staat trugen und nicht die lokal wenig angesehenen braunen Parteiaktivisten. Mit Blick auch auf den Celler Oberbürgermeister Meyer schreibt Bösch: "Die alten, konservativen Honoratioren waren häufig mehr als ein taktisches 'Aushängeschild' des neuen Staates. In vieler Hinsicht waren sie der neue Staat." (138)
Mit dem Verlust von eigenen Parteien und Presse wurde die Vereine um so wichtiger, die Heimatbewegung z.B. erlebte einen quantitativen und qualitativen Aufschwung, wobei die inhaltlichen Projekte in ihrer völkischen Ausrichtung die direkte Unterstützung der engeren NSDAP-Führung erhielten. Bösch verweist auf die Ambivalenzen: "Obwohl die Heimatvereine derartig große Überschneidungen zum Nationalsozialismus aufwiesen, blieben sie immer Bestandteil des konservativen Milieus. Sie waren wesentliche Träger der nationalsozialistischen Weltanschauung, zugleich aber auch Nischen zur Abgrenzung." (144) So machte auch der Lönsbundvorsitzende Paul Alpers einerseits aus seiner elitären Abgrenzung gegenüber dem braunen 'Pöbel' kein Hehl, agierte aber gleichzeitig unter dem Titel 'Kreisvolkstumswart' innerhalb des NS-Systems. - Bösch beleuchtet detailkundig alle Sektoren der Vereinswelt und der institutionellen Säulen des konservativen Milieus in ihrem Verhalten zu den braunen Machthabern. Die stärkste, auch personelle Einbindung lokaler Honoratiorenfamilien gelang den Nazis über die gleichgeschalteten Frauenvereine, zur wichtigsten Trennlinie wurde das Verhältnis zwischen Partei und Kirche.
In Celle waren die personellen Einschnitte nach der Kapitulation 1945 zunächst gravierender als im Jahr 1933. Die Umbruchsituation führte aber nicht zur Auflösung des konservativen Milieus, sondern im Gegenteil zunächst zu seiner forcierten Renaissance. Führende Konservative wie der Landrat Wilhelm Heinichen waren von den Briten ihrer Posten enthoben. Doch fast idealtypisch nahm der schon 64-jährige nach 20-monatiger Internierungshaft zunächst sein kirchliches und kulturelles Engagement wieder auf und wurde schon 1952 auf Vorschlag der welfisch orientierten 'Deutschen Partei' (DP) in das hohe repräsentative Amt des Oberbürgermeisters der Stadt Celle gewählt, das er bis 1964 inne hatte. Im Unterschied zu reinen NSDAP-Aufsteigern hatten Milieuangehörige nach wenigen Jahren beruflich wieder Fuß gefasst, die personelle Basis war nur zeitweilig beeinträchtigt gewesen.
Frank Bösch zeigt auch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, wie die traditionellen Säulen des konservativen Weltbildes fast bruchlos ihre Wirkmacht wieder entfalteten. Die Heimatfeste ersetzen die zunächst verbotenen, aber auch diskreditierten nationalen Feiern. Und die welfischen Tradition fand sich bei der Celler Hengstparade durch die Uniformen des königlich-hannoverschen Gestüts verkörpert. "Gegenüber dem vermeintlich zentralistischen Nationalsozialismus konnte die Liebe zur engeren Heimat als legitime unpolitische Weltanschauung erscheinen. ... Wie vor 1933 wurde den Sozialdemokraten im Wahlkampf immer wieder vorgehalten, daß sie nicht aus Celle 'stammen', die eigene Heimat nicht genug kennen würden und somit diese nicht vertreten könnten. Umgekehrt wurden Repräsentanten des konservativen Milieus weiterhin dadurch gewürdigt, daß ihre lange Abstammungsgeschichte aufgelistet wurde." (191)
Ein erster Wandel von Gewicht deutete sich mit dem Aufschwung der Wettkampfsportarten in den 1960er Jahren an, durch den die Vermittlung weltanschaulicher Werte durch Sportvereine an Bedeutung verlor. Gleichzeitig mit der wachsenden Bedeutung des Sports sahen zunehmend häufiger Lokalpolitiker eine Basis in ihren Sportvereinen. Bösch führt den FDP-Politiker Detlef Sagebiel an, der seinen Bekanntheitsgrad als erfolgreicher Ruderer erlangt habe, oder den Oberbürgermeister Helmuth Hörstmann, der - wie heute übrigens sein Sohn Udo - in der Öffentlichkeit auch als Vorsitzender des Schwimmvereins wahrgenommen wurde. Den Landtagsabgeordneten Otto Stumpf kennen viele als ehemaligen Kanu-Champ, und auch Martin Biermann präsentierte sich zuletzt in seinem OB-Wahlkampf als ehemaliger Spitzenhandballer von Traditionsverein und -schule.
Im parteipolitischen Bereich kam es gegenüber der Weimarer Republik zu bedeutenden Umschichtungen, wobei der Aufstieg der 'Christlich Demokratischen Union' (CDU) zur dominierenden Kraft des Konservatismus das auffälligste Novum darstellt. Als ausgewiesener Kenner der Genese der CDU weist Frank Bösch aber auf den äußerst komplizierten Weg zu dieser Hegemonie hin. Es ist fast in Vergessenheit geraten, dass die CDU in unserer Region lange als Partei der Katholiken und Flüchtlinge galt und in der 'Niedersächsischen Landespartei' (NLP) und ihrer Nachfolgerin, der DP, stark milieuverwurzelten Konkurrenten hatte. Die antikatholischen Ressentiments des Heimat- und Nationalprotestantismus blieben über die ganzen 1950er Jahre virulent. Trotz ihrer Wahlerfolge erreichte die Adenauer-Partei bis Mitte der 1960er Jahre, als sich einzelne Meinungsführer endlich der CDU anschlossen, keine wirkliche Verankerung im konservativen Milieu.
Doch in fast zeitlicher Parallelität zur Etablierung der CDU datiert der Göttinger Historiker den Beginn einer Erosion des konservativen Milieus: "Von den vielen Umbrüchen, die die Auflösung des konservativen Milieus in den sechziger Jahren forcierten, trafen vor allem zwei ihre Achillesferse: die zunehmende Mobilität und die Ausbreitung der Massenmedien. Das Milieu war ein Kommunikationsnetz, in dem die Gesinnung gegenseitig kontrolliert und verstärkt wurde. Die Massenmedien mochten ebenfalls Gesinnungen prägen, wiesen aber weder einen derartig abgrenzenden konservativen Charakter auf, noch eine vergleichbare face-to-face Kontrolle. Das Milieu beruhte zudem auf einem gemeinsamen Erfahrungshaushalt und dem Ansehen, das Meinungsführer durch Verwandtschaft, Vereinsengagement und ihren Beruf erwarben. Die wachsende Mobilität unterlief diese Grundfesten und führte dazu, daß sich das Milieu zunehmend auf einen Restbestand reduzierte, der sich durch eine ausgeprägte Ortsgebundenheit auszeichnete." (214)
Für politisch und historisch interessierte Celler Leser bietet die Untersuchung eine Fülle sozialgeschichtlichen Materials, das in Teilen eine neue Perspektive auf die Geschichte der Stadt eröffnet. Das Buch könnte zu einem Klassiker der Celler Regionalgeschichtsschreibung werden.

Frank Bösch: Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost- un westdeutschen Regionen (1900-1960). Göttingen (Wallstein Verlag) 2002. 267 Seiten, 25 Euro - Das Buch gibt's auch schon in der Stadtbibliothek.

Aus: revista. linke zeitung für politik und kultur in celle, Nr. 16, Nov./Dez. 2002, S. 16-18

 

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