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Interview mit Ulrich Vultejus zum 275-jährigen Jubiläum des Celler OLG
Am 14. Oktober feiert das Oberlandesgericht mit einem großen Festakt sein 275-jähriges Bestehen. Unser Interviewpartner zu diesem Jubiläum ist ULRICH VULTEJUS, Richter am Amtsgericht Hildesheim und Vorstandsmitglied der Richter und Staatsanwälte in der ÖTV.
Welche Stellung hat das OLG innerhalb der Justiz?
Die Oberlandesgerichte haben innerhalb der Justiz 3 wichtige Schlüsselfunktionen. Als erstes haben sie eine Schlüsselstellung in der Personalpolitik. So wird die Auswahl der einzustellenden Juristen von einem Gremium vorgenommen, in dem das OLG eine starke Stellung einnimmt. Das Justizministerium hat die Möglichkeit, abweichend vom OLG zu entscheiden, was jedoch in der Praxis nicht vorkommt. Speziell in Celle werden z.B. keine Juristen genommen, die an der Bremer Universität studiert haben.
Ein wichtiger Faktor sind die Oberlandesgerichte auch in der Beförderungsfrage. Die Beförderung wird davon abhängig gemacht, daß ein Richter ein halbes oder ein dreiviertel Jahr beim OLG "erprobt" wird. D.h., jeder Richter der Eingangsstufe, also Richter am Amtsgericht oder Landgericht, der befördert werden möchte; müßte als Hilfsrichter zum OLG gehen, kriegt dort ein Zeugnis mit Noten und diese Noten sind später entscheidend für die Frage, ob er befördert wird oder nicht.
Und der dritte Punkt, das ist der traurige Zustand unserer Rechtswissenschaft. Der hängt ab von den juristischen Zeitschriften und der Frage, was wird dort veröffentlicht und was wird nicht veröffentlicht. Und veröffentlicht werden bei der Fülle der Urteile fast ausschließlich Urteile des Bundesgerichtshofes und der Oberlandesgerichte. Man findet in diesen Zeitschriften kaum je das Urteil eines Landgerichtes oder eines Amtsgerichtes. Und Richter sind auch nur Menschen mit begrenzten Möglichkeiten und richten sich natürlich vergleichsweise oft nach veröffentlichten Urteilen. Am liebsten natürlich nach den Urteilen ihres Oberlandesgerichts:
Diese drei Dinge zusammen, also erstens Einstellungspolitik, zweitens Beförderungen, drittens Veröffentlichungspraxis und die Neigung der Richter, sich danach zu verhalten, ergeben eine ungeheuer starke Stellung der Oberlandesgerichte.
Nimmt das Celler Oberlandesgericht eine Sonderstellung ein?
Ich glaube, ohne Celle zu nahe zu treten; wirkt sich beim OLG in Celle eben auch eine sehr starke, "Inzuchtkultur" aus. Das ist ja vergleichsweise ein sehr kleiner Ort, der früher zu Zweidrittel von den Juristen und zu einem Drittel vom Militär beherrscht wurde. Und daran konnte man's ablesen, also den Juristenball und den Garnisonsball. Und wer da eingeladen wurde, der zählte zur Celler Gesellschaft und wer da nicht eingeladen wurde, den gab's eben gar nicht. Das heißt aber auch, daß in einer solchen Gesellschaft die Juristen in einer ziemlichen "Inzuchtkultur" leben, sich ununterbrochen sehen, am Tag im Dienst und abends bei irgendwelchen Veranstaltungen, und dadurch kommt gar kein Wind von außen rein.
Dem OLG Celle sind die Landgerichte von Göttingen, Hannover, Hildesheim, Verden, Stade, Lüneburg und Bückeburg unterstellt, wodurch Celle vermutlich den 3. größten OLG-Bezirk der Bundesrepublik hat. Der OLG-Präsident hat so etwa 1200 Richter unter sich.
Gerade wegen der Provinzialität und der Übergröße des Celler OLG-Bezirks müßte dieser verkleinert werden und Hannover als Landeshauptstadt, neben Kiel und Wiesbaden die einzige ohne Oberlandesgericht, ein OLG erhalten. Diese Entscheidung wäre sachlich angebracht und politisch wünschenswert.
Wie schätzt Du die Rolle des Celler OLG in der Zeit des Faschismus von 1933-1945 ein? So waren ,ja z.B. 90 % der Celler OLG-Richter bereits vor dem 1. Mai '33 gemeinschaftlich in die NSDAP eingetreten.
Nun will ich mal sagen, und das gilt glaub' ich auch fürs OLG, daß Celle kein Nazi-Ort gewesen ist wie viele andere kleine Städte. Der feinen Celler Gesellschaft waren die Nazis zu "proletarisch" in ihren Umgangsformen. Aber auch als Anti-Nazis waren sie keine Demokraten. Und ich glaube auch, daß das für weite Teile des Oberlandesgerichts gegolten hat. Also ich würde das Celler OLG, auch wenn es sicher schlimme Nazis unter den OLG-Richtern gab, nicht als ein braunes Oberlandesgericht bezeichnen. Nur denen, die hingerichtet werden, ist ihnen egal, ob von einem angepaßten Konservativen oder einem Nazi.
Anders sah es natürlich bei dem im Celler Schloß untergebrachten Landeserbhofgericht aus, das von den Nazis neu gebildet wurde. Bei diesem Gericht konnten sie sich natürlich die Richter aussuchen, die ihnen für diese Aufgabe besonders geeignet erschienen. Das Landeserbhofgericht war ein braunes Gericht.
Das Celler Landeserbhofgericht hat Urteile nach der Blut- und Boden-Ideologie und entsprechend des nationalsozialistischen Rassegedankenguts gefällt. Was wurde nach '45 aus diesen Richtern?
Diese Richter, die nach Blut- und Boden-Gesichtspunkten ausgesucht wurden, die standen ja nun '45 auf der Straße. Sie sind dann von der Celler Justiz aufgesogen worden und haben das, was sie früher als Landeserbhofgericht gemacht haben, nun unter der Firma Oberlandesgericht weitergemacht. In Celle ist heute das Zentrum des Landwirtschaftsrechts angesiedelt. Und die berühmte Höfeordnung, die dann nach '45 das Reichserbhofgesetz abgelöst hat, ist praktisch formuliert worden von diesen Reichserbhofgerichtsrichtern aus der braunen Zeit. Das ist wirklich eine eindeutige Kontinuität.
Es gab ,ja noch andere Extragerichte bei den Nazis, wie z.B. die Sondergerichte; deren Aufgabenbereich in politischen Strafsachen bestand und an denen insgesamt 16.000 Todesurteile gegen politische Gegner gesprochen wurden. Im Bereich Hannover gab es mit Zuständigkeit des Celler OLG-Präsidenten von Garßen auch ein Sondergericht.
Das waren sozusagen die Spezialstrafkammern, wo man versucht hat, nur Nazis zu konzentrieren. Von diesen Sondergerichten kann sich die Justiz nicht freimachen. Die Sondergerichte haben etwa viermal soviele Todesurteile verhängt, wie der berüchtigte Volksgerichtshof. Damals war es die größte Kunst des Anwalts zu erreichen, daß vor einem normalen Gericht verhandelt wurde und nicht vor einem Sondergericht.
Wissen Sie, etwas ähnliches haben Sie ja heute auch. Die Oberlandesgerichte haben einen sogenannten politischen Strafsenat, und das ist jetzt genau wie früher nur mit anderen Bezeichnungen, der Senat, bei dem die schweren politischen Strafsachen, Spionage u.ä., konzentriert sind. Nun ist es allerdings in Celle merkwürdigerweise so, daß der sogenannte 3. Strafsenat, der politische, daß der nun ausgerechnet liberal besetzt ist. Aber sozusagen in der theoretischen Anlage des Gesetzes haben wir wieder politische Strafsenate. Stammheim ist auch so'n Beispiel. Also die Konstruktion ist immer dieselbe, man versucht, die richterliche Unabhängigkeit unangetastet zu lassen, aber die für sie interessanten Prozesse auf Gerichte zu konzentrieren, wo sie sich günstige Entscheidungen erhoffen. So konzentriert man etwa die Genehmigungsverfahren für Atomkraftwerke an Oberverwaltungsgerichte, weil man meint, diese seien der Verwaltung günstiger gesonnen.
Gab's eigentlich keine Opposition gegen die Wiedereinstellung der belasteten Richter und Staatsanwälte nach `45?
Diese Opposition hat es zu Anfang von der britischen Besatzungsmacht gegeben. Das Huckepack-Verfahren (für jeden Nicht-Nazi wird ein Nazi eingestellt) ist ja ein Punkt, bis zu dem die Besatzungsmacht zurückgegangen ist. Außerhalb der Besatzungsmacht gab es keine Opposition.
Wieso hat der erste OLG-Präsident von Hodenberg, von der britischen Besatzungsmacht als unbelasteter Rechtsanwalt in dieses Amt eingesetzt, nach '45 wieder alte Nazis in die Justiz kommen lassen?
Der Herr von Hodenberg war ein konservativer Welfe, aber kein Nazi. Man kann es vielleicht erstens mit der Nähe der Konservativen zu den Nazis erklären. So kann man sich bei dem von Hodenberg vorstellen, daß er ein bißchen so' ne politische Verwandtschaft gefühlt hat. Und vielleicht läßt es sich zum zweiten damit erklären, daß Celle 'ne geschlossene Gesellschaft war. Man kannte sich untereinander, kannte die Ehefrau, kannte die Kinder. Aus diesen Gründen mag es Hodenberg schwer gefallen sein, die Nazis vor der Tür stehen zu lassen.
Aus welchen Gründen wurde kein Richter, obwohl sich viele zu Handlangern der Diktatur des 3. Reiches gemacht hatten, rechtskräftig verurteilt?
Sie können Richter wirklich nur sehr mühsam zu etwas zwingen, was sie nicht wollen und was nicht vom "Corps-Geist" getragen wird. Und der Corps-Geist hat sich gegen die Verfolgung von Nazi-Richtern gewandt. Darum hat das auch nicht funktioniert.
Wie kann man sich die Anpassungsfähigkeit der Juristen an verschiedene politische Systeme erklären?
Erstens muß man wohl sehen, daß der Nationalsozialismus ja eine konservative Richtung ist, die dem Gedankengut der Rechten benachbart ist.
Das zweite ist, daß die Ausbildung den Richter auf den Gehorsam gegenüber dem Gesetzestext dressiert, d.h., sowie etwas im Schein des Rechts von oben kommt; wird's auch gemacht. Diejenigen Richter; die darüber hinaus gehen und sich ein eigenes Gedankengebäude aufbauen, sind selten.
Ich glaube, daß diese beiden Dinge, also einmal die Verwandtschaft mit den Konservativen und das Eindressieren auf Gesetzestexte und als drittes der sehr starke Corps-Geist, die Anpassungsfähigkeit ausmachen. Wir sprechen häufig so etwas spöttisch vom "Kantinen-Senat". D.h., das, was so in der Kantine besprochen wird; daß sich da so'ne Mehrheitsmeinung bildet: "Das machen wir so!" Es ist sehr schwer, sich diesem Corps-Geist zu entziehen.
Ich glaube, es wäre ein Fehler, die heutige Richterschaft als naziverseucht anzusehen, das ist sicher falsch. Es gibt einige Nazis; das ist ganz klar: Aber viele Richter sind bürokratisch und verfügbar für die Vorstellungen des Staates.
In der DDR sind nach '45 massenweise Juristen in Schnellkursen ausgebildet worden, um die Nazi-Justiz rigoros zu ersetzen. In der BRD hat sich nach '45 anscheinend überhaupt nichts verändert!
Weder 1918 noch 1945 haben wir irgendeinen Bruch gehabt. Man hat nach '45 allerdings das typisch nationalsozialistische aus den Gesetzen gestrichen. Es hat also einige Korrekturen in Gesetzestexten gegeben, aber darüber hinaus nichts. Und letzten Endes ja bis heute nichts. Und sowohl 1918 wie 1933 wie 1945 hat man praktisch immer mit demselben Apparat weitergearbeitet. Einer der Vorwürfe, den ich erhebe und der mir auch berechtigt erscheint, ist, daß Ausbildung und Praxis die Richter eben verfügbar machen für jedes politische System, vom Kaiserreich über Weimar über den Nationalsozialismus bis heute.
Aus: Celler Zündel. Kommunale Monatszeitung, 6. Jg., H. 9, S. 3-6. 1986