Was die Zwanzigjährigen der Holocaust angeht

1.

Wer in den Tagen vor und nach dem 8. Mai 1995 in Deutschland den Fernseher laufen ließ und nicht so genau hinsah, konnte leicht einer Täuschung erliegen. Hilfe! (Einige auch: Hurra!) Sie sind wieder da!
Noch einmal und in endloser Folge waren die Bilder der Naziaufmärsche zu sehen, manche davon hübsch koloriert. Noch einmal wurden die Kampflieder und die Ansprachen ihrer Führer eingespielt. Noch einmal und auf allen Kanälen befreiten uns (Hurra, Hilfe!) die Alliierten.
In jenen Tagen wurde ich von meinem sechsjährigen Sohn vor den Fernsehschirm gerufen. Der schnauzbärtige Mann in Uniform, der die Hand wie zur Abwehr gegen eine jubelnde Menge ausstreckte und mit ruckartigen Bewegungen eine Rede hielt, war mir bekannt. Aber auch meinem Sohn schien dieser Redner durchaus vertraut zu sein - ein veritabler Kinderstar. "Guck mal", rief mein Sohn und schlug vor Entzücken die Hände auf die Knie, "das ist doch Charlie Chaplin!" Was auf dem Fernsehschirm zu sehen war, war aber nicht der berühmte Clown in "Der Große Diktator". Es war Adolf Hitler auf dem Nürnberger Parteitag.
Die Nachricht vom Sieg Charlie Chaplins über Adolf Hitler in den Köpfen der Sechsjährigen ist schon eine Mitteilung wert. Wie alle Kinder sind auch die deutschen Stepkes mit Charlie Chaplin aufgewachsen und haben den genialen Imitator vor dem Original kennengelernt. Es erscheint undenkbar, daß Hitler sich von der Lächerlichkeit, die Chaplin an ihm entdeckt hat, jemals erholen wird.
Die Jugendlichen, die ich für diesen Text interviewt habe, sind zehn bis fünfzehn Jahre älter als mein Sohn. Was den zeitlichen Abstand betrifft, sind die Filmbilder vom Diktator für sie etwa so entrückt, wie es für mich im Jahre 1960 ein Reiterstandbild Wilhelms des Zweiten gewesen ist. Wäre ich gefragt worden, was der Mann mit der Pickelhaube und der erste Weltkrieg für mich bedeutete, hätte ich wohl gesagt: ein längst vergangenes, ziemlich katastrophales Stück deutscher Geschichte; nichts, was mich persönlich angeht.
Als ich mit meiner Recherche begann, war ich geneigt, von einer ähnlichen Antwort der heute Siebzehn- Zwanzigjährigen über das dritte Reich und die Nazi-Verbrechen auszugehen. Um ein Ergebnis gleich vorwegzunehmen: diese Hypothese hat sich als falsch erwiesen. Der zeitliche Abstand zu Auschwitz läßt sich auch für die Enkel nicht in Jahren und Jahrzehnten messen. Der Schatten, den das deutsche Verbrechen an den Juden wirft, ist ungleich mächtiger als jedes andere nahe oder ferne Ereignis und ragt auch in die Gegenwart der Zwanzigjährigen hinein. Die Annahme, der Holocaust sei für sie zum fernen Feuerschein geworden, vergleichbar dem des dreißigjährigen Krieges, ist bis auf weiteres verfrüht.
Ich habe ca. 300 junge Leute zwischen 15 und 22 danach gefragt - Studenten, Gymnasiasten, Berufsschüler - was sie über den Holocaust wissen und was ihnen dieses Kapitel der Vergangenheit bedeutet. Viele habe ich bei Besuchen der Gedenkstätten Topographie des Terrors, Sachsenhausen, Ravensbrück und Bergen -Belsen getroffen. Aber ich habe auch mit Jugendlichen in der Kleinstadt Fürstenberg (bei Ravensbrück) und mit Berufsschülern und Gymnasiasten in Celle (bei Hannover) gesprochen, die auf das Thema nicht näher vorbereitet waren.
(Als ich so alt war wie die jetzt von mir Interviewten, klappte unser Klassenlehrer - ein hochaufgeschossener, sehr dürrer Herr mit einem sensiblen Kopf auf den Schultern - das Geschichtsbuch zu. Er könne uns leider das nun anstehende Kapitel nicht unterrichten, erklärte er; er sei befangen. Keiner von uns Sechzehnjährigen wagte, eine Frage nach dem genauen Grund der Befangenheit zu stellen. Später erfuhren wir, daß dieser, besonders von mir geschätzte Lehrer auf einer der NAPOLA-Schulen (Nationalpolitische Erziehungsanstalten) die junge Elite für Wehrmacht und SS ausgebildet hatte. Seine Strafe bestand darin, daß er nie in den Rang des Oberstudienrats aufsteigen konnte. Für uns bestand die Strafe darin, daß wir in neun Jahren Unterricht an einem altsprachigen Gymnasium keine zwei Schulstunden auf die Geschichte des Dritten Reiches verwendeten.
Was das Wissen angeht, haben sich die Verhältnisse entscheidend verändert.)
Ich bin bei meinen Befragungen zwar auf viele Jugendliche gestoßen, die das Wort "Holocaust" nicht kannten, aber auf keinen, der vom Verbrechen an den Juden nichts gewußt oder es gar geleugnet hätte - letzteres mag dem Umstand zuzuschreiben sein, daß die Auschwitzlüge in der BRD seit kurzem unter Strafe steht. Die heute Zwanzigjährigen wissen durchschnittlich deutlich mehr über die Nazi-Vergangenheit als die Angehörigen meiner Generation im gleichen Alter wußten. Das Verdienst daran ist wohl nur zum geringeren Teil den Elternhäusern gutzuschreiben. Nach allem, was ich erfahren konnte, erzählen die Großväter ihren Enkeln heute nichts anderes, als sie vor 30 oder 40 Jahren ihren Kindern erzählt haben: von den Schrecken der Vertreibung, vom Terror der Bombennächte, von Erschießungen und Vergewaltigungen - aber immer nur von den selbst erfahrenen Leiden, nicht von denen, die die Deutschen zuvor anderen zugefügt hatten. Ein verblüffendes Detail zu diesem Punkt: Kein einziger der Befragten bejahte die Frage, ob ein großväterlicher Kriegsteilnehmer in seinen Erzählungen eine eigene Schuld oder eigenes Fehlverhalten eingestanden habe. Das Hauptverdienst an dem relativ verbreiteten Wissensstand über die jüngste deutsche Vergangenheit hat offenbar die Schule. Nach den - in den einzelnen Ländern unterschiedlichen - Rahmenplänen ist der Themenschwerpunkt "Nationalsozialismus und 2. Weltkrieg" in der 9. spätestens in der 10. Klasse mit mindestens 14 Stunden (plus 7 weitere Stunden als Option) dran. Viele Lehrer beginnen mit diesem Stoff schon in der 5. oder 6. Klasse - wobei sich ein neues Problem ergibt: man kann die Kinder auch zu früh mit dem Holocaust konfrontieren und sie überfordern. Das Ergebnis ist jedenfalls, daß heute kein Schulabgänger an diesem Kapitel der deutschen Geschichte vorbeikommt. 1994/95, in der Zeit der 50. Jahrestage - des D-Day, der Befreiung von Auschwitz, der Kapitulation, etc. - kommen noch zwei weitere Faktoren hinzu: die Schwerpunkt-Sendungen der Fernsehanstalten und Steven Spielbergs Schindlerfilm.
Ich sah "Schindlers Liste" mit einer halbjährigen Verspätung in einer Nachmittagsvorstellung. Um mich herum sassen lauter Halbwüchsige, Dreizehn - Siebzehnjährige, das Pärchen auf den Nebenplätzen knutschte. Hinter mir hörte ich die leisen Explosionen von geöffneten Coca-Coladosen und das Rascheln, das beim Nachgreifen in Bonbon-und Popkorntüten entsteht. Ich saß da in angespannter Erwartung, wie Spielberg die unmögliche Aufgabe lösen würde, aber ebenso neugierig darauf, wann den Verliebten neben mir die Lust vergehen würde. Es dauerte lange, über jedes mir erträgliche Maß hinaus lange. Ungestört überstand das Paar die ersten Erschießungen im Ghetto, ließ sich durch die Schreie der Mißhandelten nicht irritieren, und kam nicht einmal bei der mörderischen Räumung des Ghettos durch die SS aus dem Ryhthmus. Aus den Augenwinkel sah ich die verschlungenen Glieder der Verliebten neben mir - auf der Leinwand die ineinander verhakten Arme und Beine der Ermordeten. Irgendwann, ich glaube nach einer Stunde, als die Leichen zu einer Mauer aufgeschichtet und angezündet wurden, hörte das Knutschen auf und ging ins Händchenhalten über. Etwas später verebbte auch das Rascheln der Tüten und das Dosenknallen. Als wir hinausgingen, standen einigen Jugendlichen Tränen in den Augen, andere redeten, mit noch erstickter Stimme, von der Disco, in die sie gehen würden.
Ich überlegte, unter welchem Stichwort der Schindlerfilm in diesen halberwachsenen, täglich mit Gewaltbildern überfluteten Hirnen gespeichert würde: `wahre Geschichte`, `Rührstück`, `Horror- oder Splattervideo`? Würden sie die Unterscheidung zwischen dem üblichen Gewalt-Entertainment und der detailgenauen Nachinszenierung eines Genozid erkennen? Ich vermute, darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Womöglich entscheidet ein winziger Unterschied im Zuschauerraum über die Wahrnehmung und die emotionale Reaktion. Die Berliner Lehrerin Regine Noack sagte ihren Schülern vor dem Besuch des Schindler- Films: "Der erste, der mit etwas knistert oder eine blöde Bemerkung macht, fliegt raus." Aus Erfahrung wußte sie, daß ein Witz, ein Hüsteln oder Prusten an der falschen Stelle genügen, um die Rezeptionsbereitschaft einer ganzen Klasse zu ruinieren. (Außerdem war sie durch einen Vorfall gewarnt. Schüler einer 7.Klasse, mit denen sie gerade die Entstehung des Frankenreichs erörterte, hatten sie sehnsüchtig gefragt, wann endlich der Nationalsozialismus dran sein. Der Grund für das ungewöhnliche Interesse, so fand sie heraus, war ein schwedischer Aufklärungsfilm namens "Das 3. Reich". Ein Geheimtip unter einigen Schülern, weil er die Nazigreuel nach dem letzten Stand der zugänglichen Bilddokumente, in nie gesehener Vollständigkeit vorführte. Regine Noack beschloß daraufhin, diesen Film nicht zu zeigen.)
Die Frage ist nicht mehr, ob sondern wie dieses Kapitel der Geschichte jungen Deutschen nahe gebracht wird. Im Laufe meiner Recherche wurde immer deutlicher, daß sie auch von den Irrungen und Wirrungen der Vermittler des Holocaust handeln mußte.
(Nach wie vor ist das Thema so stark von den Tabus, Vermeidungsgesten, pädagogischen Anfällen der Erwachsenen umstellt, daß manche der Jungen darauf mit - zuweilen schauderhaftem - Trotzgehabe reagieren. In Fürstenberg, nahe der Gedenkstätte Ravensbrück, stieß ich auf eine Gruppe von 14- 20jährigen, die dort auf dem einzigen großen Platz an der Bushaltestelle ihr Nachmittagstreffen hatten. Umgeben von frisch renovierten Fachwerkhäusern aus dem 17. Jahrhundert führten sie sich gegenseitig ihre neuesten Frisuren, ihre T-Shirts (No, No York, New York, Fuck York, Fuck you, etc.) ihre Mopeds oder Fahrräder und ihre Sprüche vor. Der Bus kam nicht und wurde nicht erwartet. Die einzig bemerkenswerte Ankunft während der Stunde, die ich auf dem Platz verbrachte, war der Einfahrt eines knatternden, vorzüglich bemalten Trabi zu verdanken, dem ein weiteres Mitglied der Truppe entstieg. Lässig, nicht ohne Neugier reagierten die Fünf von der Bushaltetelle auf meine Ansage. Ob sie bereit wären ein paar Fragen für eine Zeitung zu beantworten? Souverän überspielte Enttäuschung, als der Gegenstand der Befragung genannt wurde. Natürlich, KZ Ravensbrück! Deswegen kamen sie ja alle, die überhaupt nach Fürstenberg fanden. Routiniert, leicht angehoben, beantworten sie die Wissensfragen. Wann zum ersten Mal davon gehört? "Schon als Jungpioniere, das ging schon in der ersten Klasse los"! Dann, ich weiß nicht, ob als Provokation oder bloße Mitteilung, fällt der Satz. Auf die Frage, ob sie schon als Schüler die Gedenkstätte besucht hätten, erwidert Marcel mit der roten Punkfrisur: "Wir waren ja heute auch oben...Iss doch cool da." "Wieso cool?" "Na, Olle, der Ofen da, wo 'se die verbrannt ham, der iss cool, irgendwie lustig..." Ich frage die kichernden Mädchen auf der Bank. "Nimmt der mich jetzt auf den Arm?" Stefanie nickt, aber sagt ins Mikrophon: "Wat soll ick dazu sagen? Zu sowas hab ick keene Meinung!"
Wer auf Schlagzeilen aus ist, kann das makabre Spiel in Marcels Antworten unterschlagen: FÜRSTENBERGER JUGENDLICHE FINDEN NAZI- KREMATORIUM `COOL`! Das wäre ein international wirksamer Titel, eine Oberschlagzeile; aber sie würde Marcel unrecht tun. Denn der hier wiedergegebene Dialog sagt kaum etwas über die Fürstenberger Jugend aus, er handelt von den Schwierigkeiten des Reporters. Der Reporter konditioniert die Antworten. Mit seinem Kasettengerät, seinem Fotografen und seinen gezielten, längst bekannen Fragen bekommt er - in der Maske der spontanen Antwort - immer nur das fett Gedruckte, möglichst noch einmal fett zu Druckende zu hören. Play it again, Sam: FÜRSTENBERGER JUGENDLICHE FINDEN NAZI- KREMATORIUM `COOL`!
Derselbe Marcel, der eben noch mit seinem Spruch über die Öfen großtat, war dann zu Tode erschrocken, als ich ihn mit der Frage provozierte, wer außer ihm in Fürstenberg - "Marcel natürlich, das ist klar"! - Spaß daran hätte, Menschen zu vertreiben oder zu verbrennen. "Ick nich, Mann!", rief Marcel empört. Und sagte dann, nach den Neonazis von Fürstenberg befragt, mit einer gewissen Melancholie in der Stimme: "Neonazis? Hier iss' ja so langweilig! Nich` mal sowas gibt`s in Fürstenberg!")

2.

(Mit der Schäbigkeit ihrer zerfallenen, nicht renovierten Baracken mit den rissigen Betonplatten auf den Wegen, aus denen das Gras wuchert, bewahrt die Gedenkstätte Sachsenhausen einen Rest der ursprünglichen Monstrosität des Ortes. Noch die heldischen Skulpturen und das Mahnmal für die Opfer, zu frühen DDR-Zeiten konzipiert und in der Sprache der Nazi-Ästhetik ausgeführt, erweisen unfreiwillig den Tätern Reverenz, nicht den Opfern. Überall, am Krematorium, am Schießstand, an der Gaskammer und an den Baracken, findet sich, wie eine Temperaturanzeige über den Zustand des deutschen Erinnerung, das Schild: Vorsicht, Einsturzgefahr!
Eine Gedenkstätte, der es nur um die historische Wahrheit geht, muß wohl noch erfunden werden. In vielen Fällen muß man von einem Erwürgen der Erinnerung im Namen des Gedenkens sprechen.
Ein Beispiel dafür ist die Gedenkstätte Sachsenhausen. Sachsenhausen war eines der ersten von den Nazis eingerichteten Internierungs- Lager. An die 204 000 Menschen aus 47 Nationen sind hier von 1936 an eingeliefert worden, etwa die Hälfte von ihnen wurde -je nach dem technischen Stand der Nazi- Mordmaschine- umgebracht. Im Jahre 1961 errichtete die DDR auf dem KZ-Gelände eine Gedenkstätte. Aber das erste Werk des Gedenkens war die Verdrängung eines unmittelbar zurückliegenden Verbrechens, das im Namen des Antifaschismus begangen worden war. Ein Teil des Nazi-Lagers war von 1945 - 1950 von den sowjetischen NKWD zur Internierung von ca. 150 000 Häftlingen benutzt worden. Etwa 20000 - andere Schätzungen sprechen von 70000 - waren bis 1950 an Hunger, Ödemen, TBC und an den Folgen von Bestrafungen gestorben. Die DDR-Planer gestalteten die Gedenkstätte ganz nach den propagandistischen Bedürfnissen des jungen Staates aus: das ehemalige KZ wurde als Symbol des "antifaschistischen Kampfes" ausgebeutet. Erst auf den vehementen Protest aus Israel wurde die Judenverfolgung überhaupt - durch die Einbeziehung der zwei, hauptsächlich mit jüdischen Häftlingen belegten Baracken 38 und 39 - dokumentiert. Dort wurde die Ausstellung "Geschichte des Widerstandskampfes und der Leiden jüdischer Bürger" untergebracht. Diese beiden Baracken wiederum wurden im September 1992 durch einen Brandanschlag von Neonazis fast ganz zerstört.
Die verbrannten, "jüdischen" Baracken sind heute nur in einer Foto-und - Textdokumentation erhalten. Und so bestimmt nun, dank eines denkwürdigen Zusammenwirkens zwischen Brandanschlag und "Geldmangel" des Landes Brandenburg, die alte, von den Kommunisten dirigierte Geschichtsschreibung das Erinnerungsbild. Im "Lagermuseum", das aus DDR-Zeiten stammt, werden die Internierten und Ermordeten aus 47 Nationen aufgezählt, das Wort "Wort" Jude taucht nicht ein einziges Mal auf; mit einer bezeichnenden Ausnahme: es findet sich in den zitierten Nazi- Erklärungen der dort ausgestellten Nazi-Symbole - und Stempel:"Jüdischer Rasseschänder","Jüdischer Emigrant" etc. Nach der Darstellung des "Lagermuseums" waren deutsche und sowjetische Kommunisten die Hauptopfer in den KZ; über sie heißt es - in bestem Parteijargon: "Die Kommunisten, von ihrer Partei zu selbstlosen Kämpfern erzogen, führten den Kampf. Unvergeßlich sind die Namen Georg Schumann..." Auch der Widerstand wird als eine Sache deutscher und sowjetischer Kommunisten dargestellt. "Neue Kämpfer traten an die Stelle der Ermordeten .... sie fürchteten nicht den Tod und fielen für ein neues besseres Deutschland." "Unter den 100000 Toten befanden sich aufrechte Patrioten..." Wenn man das Lagermuseum verläßt, hat man den Eindruck, die Gemarterten und Ermordeten von Sachsenhausen hätten in den Jahren ihres Martyriums nur eines im Sinn gehabt: den Aufbau eines deutschen Arbeiter- und Bauernstaates namens DDR.
Auch in dem heute noch gezeigten DDR -Propagandafilm "Todeslager Sachsenhausen" - er wurde 1946 unter Einbeziehung von NKWD-Häftlingen, die in einigen Einstellungen als KZ-Häftlinge posieren mußten, für die DEFA produziert - sind als Opfer der Nazis ausschließlich sowjetische Kriegsgefangene und deutsche Kommunisten genannt, Juden und andere Opfer werden nicht erwähnt.
Yonathan Rothman, dem israelischen Teilnehmer einer deutsch-israelischen Besuchergruppe, standen Tränen des Zorns in den Augen. Warum man ihnen diesen Film gezeigt habe, fragte er draußen vor dem Kinosaal den Führer des Rundgangs. Man habe einen Dokumentarfilm angekündigt und habe einen stalinistischen Propagandafilm gezeigt. Er sehe das Schicksal seiner Verwandten und seines Volkes in diesem Film nicht vertreten, sondern ignoriert und totgeschwiegen, zu politischen Zwecken mißbraucht - und dies in einer angeblichen Gedenkstätte. Er würde genauso reden, wenn in einer westdeutschen Gedenkstätte die Opfer unter den deutschen Kommunisten und sowjetischen Kriegsgefangenen unterschlagen würden.
Später fragte ich ihn, wie er zu seinem blutunterlaufenen Auge gekommen war. Zwei Tage zuvor war er beim nächtlichen Heimweg in Potsdam von zwei Skinheads verfolgt worden. Sie hatten sich genähert, ihm pöbelnd Fragen nach dem Woher und Wohin gestellt, einen gewissen Akzent aus seinen Antworten herausgehört und waren dann über ihn hergefallen. Ich sah ihn ungläubig an. Yonathan ist weiß, seine Augen sind blau, er ist in Bayern aufgewachsen und spricht perfekt Deutsch. Das Einzige, was in einer Stadt wie Potsdam an ihm auffallen mochte, war der kurze, zum Pferdeschwanz gebundene blonde Haarzopf.
"Das ist es doch" erwiderte Yonathan. "Es genügt, ein Blonder, Langhaariger mit oder ohne Akzent zu sein, um halbtot geschlagen zu werden." Wenn er sich dann noch vorstelle, daß die beiden Skinheads als Schüler in einer Gedenkstätte wie Sachsenhausen über die deutsche Vergangenheit "aufgeklärt" worden seien, füge sich alles zusammen. Deswegen protestiere er auch so nachdrücklich gegen die politische Indienstnahme seiner Skindhead-Geschichte durch die israelische Presse. Er sei eben nicht, wie dort berichtet, in Deutschland verprügelt worden, "weil er Jude war". Von seiner jüdischen Idendität hätten die beiden Schläger gar nichts wissen können, da er sich, in der Hoffnung auf bessere Behandlung, als Amerikaner ausgegeben habe. Von diesem Detail habe man in Israel, wo Menschen manchmal verprügelt würden, weil sie wie Palästinenser aussehen, nichts wissen wollen.
Auf die Frage, warum die aus der untergegangenen DDR- Zeit stammmenden Exponate und Filme, die für jeden jüdischen, aber auch jeden anderen informierten Besucher eine kaum erträgliche Zumutung darstellen, fünf Jahre nach dem Fall der Mauer belassen wurden, ist aus der Leitung der Gedenkstätte zu hören: der Leiter der Fachkommission sei noch nicht so weit. Das Lagermuseum solle erneuert werden, die kommunistische Version der Geschichte Sachsenhausens an einen anderen, kleineren Ort verlagert werden. Aber bis auf weiteres fehle zu all dem das Geld. Tatsächlich hat das Land den Haushalt der Brandenburgischen Gedenkstätten, die sich zunehmender Besucherzahlen erfreuen - allein in Sachsenhausen waren es bis Ende September 250 000 - für 1996 um 12 Prozent gekürzt. Inzwischen hat der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Jürgen Dittberner, vor der Gefahr gewarnt, daß die Gedenkstätten in Sachsenhausen und Ravensbrück "in der märkischen Landschaft versinken". Der Zerfall der Gedenkstätte ist umso skandalöser, wenn man bedenkt, daß für ein zentrales Holocaust-Mahnmal in Berlin 20 Millionen DM gehandelt wurden. Jürgen Dittberner hat mit seinem Argument natürlich recht: im Land der Täter sind die vielen realen Orte, an denen das Ungeheuerliche geschah, unendlich aussagekräftiger als irgendeine symbolische "Zentrale" der Erinnerung in der Hauptstadt.
Das andere Extrem einer Gedenkstätte stellt Bergen Belsen dar. Das 1945 von den Engländern befreite KZ wurde nicht zuletzt durch die weltweit verbreiteten Fotos des britischen Armeefotografen d a s Beispiel für die Nazi-Babarei. Heute ist Bergen-Belsen die hübscheste Gedenkstätte, die ich gesehen habe. Erst nach Ronald Reagans Besuch in Deutschland und dem berüchtigten Bittburger Handschlag bewilligte das Land die Gelder für den Ausbau. Wer dem Hinweispfeil auf der Autobahn nach Hamburg folgt, findet einen großzüpgigen Parkplatz und eine diskrete, postmoderne Fassade vor. Dahinter eine Bild und- Schriftdokumentation, die es in sich hat. Durch vergrößerte Originaldokumente vermittelt die Aussstellung dem Betrachter einen Eindruck von dem Grauen, das der britische Fotograf mit kaum einem Dutzend Bilder dokumentierte ( die wieder anzusehen er sich bis zum Lebensende weigerte). Ich sah ein vielleicht neunjähriges MÄdchen mit dem kleinen Zeigefinger auf das Skelett eines verhungerten KZ- Insassen zeigen, dessen offenes Gebiß in den Himmel bleckt. Ich hörte das Mädchen eine Frage an die Eltern stellen und sah es dann, den erlittenen Schrecken überspielend, mit einem besserwisserischen Lächeln auf den Lippen weitergehen. Was bewiesen die Eltern sich, was bewiesen sie dem Kind, wenn sie ihm solche Bilder zeigten?
Von dem Grauen des ehemaligen Lagers Bergen- Belsens zeigt der Park hinter dem Museum nichts. Einige, höchstens acht Jahre alte Zypressen stören die einheimische Vegetation. Die Baracken, die Schießstände, das Krematorium - das alles ist nur als schwarz-weiße, mühsam lesbare Skizze erhalten. Auf den rechteckigen halbmeterhohen Rechtecken mit den Aufschriften "800 Tote", "1000 Tote", "5000 Tote", blüht das Heidekraut. Bergen-Belsen ist ein violetter, betörend schöner Park. Man könnte hier spazieren gehen, man geht spazieren. Ich sah ein Paar - englisch sprechend, wahrscheinlich dem nahen NATO-Truppenübungsplatz zuzuordnen - das seinen Stroller mit dem Baby durch die Heidekrauthügel spazieren schob. Wie lange wird es dauern, bis hier pazifistische Junggermanen zwischen den Hügeln sonnenbaden und workcamps abhalten?)

3.

Das Erste, was mir bei meinen Befragungen auffiel, war die Unbefangenheit der Befragten. Keiner der Jugendlichen verweigerte sich oder überlegte lange an den Antworten herum. Statt auf eingebildete oder verleugnete Schuldgefühle stieß ich auf Neugier und einen fast sportlichen Ehrgeiz, das Unbegreifliche zu begreifen. Die meisten hatten sich aus eigenen Stücken für den Besuch einer Gedenkstätte entschieden. Die beklommenen Reaktionen, die Namen wie Bergen- Belsen, Ravensbrück oder Sachsenhausen bis auf den heutigen Tag bei meinen Altersgenossen auslösen, die plötzliche Wachsamkeit im Blick, das Senken der Stimme, die Suche nach der letzten, unverbrauchten Formel der Betroffenheit - all das traf ich bei den Jugendlichen kaum an. Dabei ist es keineswegs so, daß dem größeren zeitlichen Abstand eine größere "emotionale Distanz" entspräche. Die Gefühle sind stärker auf das Ereignis des Genozids selbst gerichtet, weniger von den Reflexen der Schuldabwehr oder Schuldbeflissenheit bestimmt. ("Neue Geschichtsbilder", sagt Volker Henneicke, der achtundzwanzigjährige Leiter eines Sommerlagers in der Gedenkstätte Sachsenhausen, "bilden sich immer in Widerspruch zu den Fixierungen der vorherigen Generation." Als wichtigsten Unterschied zu meiner Generation nennt er die Ablehnung "extremer, ideologisch verengter" Deutungen des Holocaust. Mit angeblichen "Lektionen" wie, die ganze deutsche Geschichte sei strukturell auf Auschwitz zugelaufen, oder wegen Auschwitz sollten die Deutschen von einer Wiedervereinigung absehen, könne er nichts anfangen. Mit gleicher Entschiedenheit widerspricht er der Ansicht, der Holocaust werde in naher Zukunft ein Ereignis unter anderen sein. Eine bloß analytische, emotionslose Beschäftigung mit diesem einzigartigen Verbrechen könne es nicht geben. "Und auf welche Mängel eures Geschichtsbildes werden eure Kinder reagieren?" Er zuckt mit den Achseln. "Hättet ihr euch vor 20 Jahren denn vorstellen können, was ihr heute von uns zu hören kriegt?")
Die Schriftstellerin Inge Deutschkron, die als junges Mädchen den Holocaust in Berlin überlebte, weil sie von Freunden versteckt worden war, hat nach dem Krieg als Korrenspondentin für die israelische Zeitung Maariv in Deutschland gearbeitet und kennt alle drei Generationen - die damals Erwachsenen, die Generation ihrer Kinder und die der Enkel. Mit der letzten Generation, mit der sie aus unzähligen Auftritten in Schulen vertraut ist, hat sie sichtlich am wenigsten Schwierigkeiten. "Diese Jungen sind offener, neugieriger, freier", sagt sie. "Die wollen wirklich alles wissen. Und Sie haben keine Angst zu fragen. Sie fragen mich ja glatt:`Ha'm Se nun von damals einen psychischen Schaden davon getragen?`. Und ich antworte Ihnen: `das müßt ihr schon selber entscheiden!`"
Der insgesamt pragmatische, eher wißbegierige als aufgeregte Umgang der Enkel mit der Geschichte der Großväter zeigt sich freilich auch in der offenen Ablehnung ritueller Pflichtübungen in Betroffenheit. "Vor ein paar Monaten waren wir auf Klassenfahrt in Weimar", erzählt die Teilnehmerin einer Besuchergruppe in Sachsenhausen, "dort in der Nähe ist Buchenwald, also gehen wir nach Buchenwald. Man lebt hier in der Nähe von Sachsenhausen, also ist man mindestens einmal im Jahr in Sachsenhausen. Dieses obligatorische Sichansehenmüssen und Betroffenseinsollen - ich kann damit überhaupt nicht mehr umgehen."
Vor allem, was die Frage nach den Opfern angeht, stieß ich bei ost- und westdeutschen Jugendlichen auf eine Art geteilter Wahrnehmung, die offenbar die Folge einer geteilten Geschichtsschreibung in den vormals zwei deutschen Staaten ist. Von den westdeutschen Jugendlichen werden zuerst die Juden als Opfer genannt, dann folgen Zigeuner, Homosexuelle, Behinderte - Polen, Russen und die Verschleppten anderer europäischer Nationen, vor allem aber die Kommunisten und Sozialdemokraten sind als Opfer viel weniger bekannt. Bei den ostdeutschen Jugendlichen stellt sich die Reihenfolge spiegelverkehrt dar: Obenan stehen die Kommunisten und "sowjetischen Kriegsgefangenen", dann erst werden die Juden genannt, eventuell noch die Zigeuner. Von beiden Seiten werden die Homosexuellen mehr oder weniger und die Zeugen Jehovas ganz und gar ignoriert.
Zu meiner Überraschung bestritten die meisten der Befragten - mit Ausnahme einiger Mädchen - die Vermutung, daß sie sich nach einem Randgang durch ein ehemaliges KZ in ihrem Selbstbewußtsein als Deutsche beeinträchtigt fühlten. Auch die Kennzeichnung des Lagerssystems als "typisch deutsch" fanden die meisten ungeeignet: etwas Ähnliches könne auch in anderen Teilen der Welt passieren. Gar Haß auf Deutschland und die Deutschen - wieso? Auch der Ausdruck "sich schämen, ein Deutscher zu sein" wurde abgelehnt. In den Augen dieser Zwanzigjährigen sind eben nicht "die Deutschen" für die KZ verantwortlich, auch nicht "die Großväter", sondern die Nazis, die SS etc. (Dabei fällt auf, daß die junge Generation mit der Leidenschaft des Schuldigsprechens, der die 68er im Übermaß erlagen, sehr vorsichtig, um nicht zu sagen übervorsichtig umgehen. "Mein Opa war in der Waffen- SS. Der stand dazu"! sagte Kai von der Axel-Brunsschule in Celle. Auf die Frage, ob er ihm deswegen zugesetzt habe, erwiderte Kai: "Nee, das war ja seine Entscheidung. Er hat halt so gedacht.")
Andererseits wollte sich kaum jemand mit dem Satz "Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein" identifizieren. Die meisten wollten den Vordersatz "ich bin stolz" lieber durch "ich bin froh" oder "ich finde es o. k.", ein Deutscher zu sein," ersetzt sehen. "Stolz kann man nur auf das sein, was man selbst gemacht hat." sagte einer. Und ein anderer: "Ich wäre auch nicht stolz, ein Ungar oder ein Mexikaner zu sein." Und noch ein anderer:"Ich bin froh, vielleicht sogar glücklich,ein Deutscher zu sein, weil es uns hier gut geht...Vielleicht ist es das, was man früher mit "stolz" gemeint hat." Beatrice aus der 12. Klasse der Kaiserin- Augusta-Victoria- Schule in Celle ließ einen gewissen Neid auf gleichaltrige Amerikaner erkennen, die niemand verdächtige, wenn sie beim Sportfest ihres College die Nationalhymne sängen. Hier in Deutschland könne man sich eine solche Geste eben nicht leisten und sie finde es auch nicht gut, wenn diese Sperre übersprungen werde: "Ich bin immer noch berührt durch die Vergangenheit".
Nicht ein einziger Jugendlicher hatte Sympathien für die Auschwitzlüge, viele hatten jedoch davon gehört. (Nicht wenige waren jedoch der Ansicht, man könne gewisse Fragen nicht offen ansprechen, ohne gleich in die rechte Ecke gestellt zu werden - zum Beispiel die Frage nach der Zahl der Ermordeten) Auf die Frage, ob sie persönlich jemanden kennten, der die Auschwitzlüge verbreite, erzählte eine Schülerin, sie sei als 15-jährige in einer "Fascho- Gruppe" gewesen. Die hätten ihr gesagt, was da (über den Holocaust) gesagt werde, "ist alles gelogen, das haben die sich ausgedacht". Mit ihrer Freundin sei sie zu der Gruppe hingegangen, habe ihnen die Fotos über Bergen-Belsen gezeigt: "Hey, das sind die Bilder, das ist bewiesen". Sie seien sogar mit denen in der Gedenkstätte gewesen. Aber dort hätten "die Faschos" immer noch gesagt, "das war ein Arbeitslager, da wurde keiner vergast, keiner erschossen. Die waren sogar der Meinung, die (Lagerinsassen) hätten das freiwillig gemacht und dafür noch Geld bekommen". Kathrin, 19 Jahre, bestreitet den Sinn jedes Redens "mit denen". Die hätten ihre Meinung und ließen sich nicht umstimmen. Was man ihnen machen solle, um sie umzustimmen? "Dasgleiche, was sie mit den Juden gemacht haben!" Eine gleichaltrige Besucherin in Sachsenhausen war nur wenig milder. "Reinsetzen in so einen Zellenbunker und die Tür zumachen, damit sie die von innen sehen müssen."
Über die Notwendigkeit und den Sinn des Erinnerns war von Berlin bis Celle ein Chor zu hören, der jedesmal durchaus spontan klang und doch Wort für Wort derselbe war: "... sich erinnern, damit so etwas nie wieder geschieht". Auf die Frage, wem "so etwas" denn wieder geschehe oder geschehen könnte, wurden "die Ausländer" am häufigsten genannt, öfter auch "die Bosnier". Aber darüber, welche konkreten Handhaben die Erinnerung an Auschwitz für die Bewältigung solcher Gegenwartsaufgaben bereitstelle, gab es keinerlei Konsens. Was Bosnien betraf, waren sowohl die Pazifisten wie die Interventionisten überzeugt, die richtigen Lehren aus der Vergangenheit gezogen zu haben. In der Klasse einer berufsbildenden Schule in Celle wurde die Gefahr einer Vertreibung der kurdischen Minderheit genannt. Aber plötzlich und übergangslos schlug diese Warnung im Verlauf der Diskussion in einen regelrechten Wunsch nach Vertreibung um. Der Spruch "Ausländer raus" sei nicht ganz falsch, die Kurden würden sich in Celle längst mehr herausnehmen als die Deutschen etc. Ehrliches Entsetzen vor dem historischen Holocaust, diese Erkenntnis ist wohl nicht ganz neu, scheint sich ziemlich mühelos mit der Bereitschaft zu neuer Diskriminierung und Verfolgung zu vertragen.
So gut wie alle, die ich befragte, - wiederum mit Ausnahme einiger junger Frauen - stritten das Vorhandensein und erst recht die Berechtigung eines Schuldgefühls energisch ab. "Schuldig wäre ich nur, wenn heute wieder so etwas passieren würde", war eine häufige Antwort. Aber die Tatsache, daß ein Schuldgefühl abgelehnt wird, heißt noch nicht, daß es nicht existiert. Ole, von der Kaiserin-Augusta- Victoria- Schule in Celle, beschreibt "das unangenehme Gefühl", das ihn beim Besuch von Bergen-Belsen zusammen mit einer schwedischen Austauschklasse beschlichen habe: "dieses typisch deutsche Gefühl: wir als Kollektiv haben damals etwas falsch gemacht, wir sind damals schuld gewesen. Und wenn man dann an diesen Massengräbern vorbeilatscht, an denen steht, Grab Nummer 1, 10 000 Tote oder sowas, das ist schon ein wunderliches Gefühl." Auf die Nachfrage, ob dieses Schuldgefühl seiner Meinung nach berechtigt sei, antwortet er: "Nicht berechtigt ..Es ist kein echtes Schuldgefühl, sondern ein kollektives Großschuldgefühl, das von der Gesellschaft aufgedrängt wird, weil es immer wieder als 'die deutsche Schuld' deklariert wird." Fast beschwörend, nimmt Ole dann - per Generationenzählung - die Gnade der späten Geburt in Anspruch: "schon meine Eltern haben nichts mehr damit zu tun, ich habe erst recht nichts damit zu tun." Katharina aus derselben Klasse ergänzt: "Dieses Schuldgefühl wird einem eingeprägt....Wir haben im Endeffekt nichts damit zu tun. Wir als Jugendliche müssen das heutzutage ausbaden.. wir können ja nichts dafür."
So sehr ich es glauben möchte - ich zweifle daran, daß die Generation der Enkel sich so schuldlos fühlt, wie sie tatsächlich ist. Ist nicht das überwältigende Bedürfnis so vieler junger Deutscher nach Reinheit und Unschuld, der Drang, sich vor aller Welt als Friedensengel und Umweltschützer hervorzutun, auch ein Versuch, dem Schatten, den der Holocaust in die Gegenwart wirft, zu entkommen? Noch wenn sie Deutschland den Rücken kehren und mit ihren Rucksäcken und Kleinkindern auf dem Rücken die natural trails des alten Amerika begehen, auf den Spuren der "unschuldigen" Indianerkulturen, läuft, als winziger Mittagsschatten, der pflichtbewußte Großvater mit.
So ausdrücklich die Jugendlichen ein Schuldgefühl ablehnen - obwohl manche es empfinden - so bereit sind sie, eine historische Verantwortung anzuerkennen. Freilich geriet diese Anerkennung rasch ins Wanken, sobald ich nach der Bereitschaft fragte, weitere Wiedergutmachungszahlungen zu leisten. "Einmal muß es gut sein!" dieser Ruf aus einer Schulklasse in Celle muß wohl als Votum einer ganzen Generation gelten.
Am meisten verblüfften mich die Antworten auf die Frage, ob man als Deutscher im Ausland immer noch wie ein Schuldiger behandelt werde, gleichgültig, wie alt man sei. Nie wurde es in den Klassen und Gruppen so lebendig wie bei dieser Frage. Ob 15 oder 20, fast jeder der Befragten hatte irgendeine Geschichte zu erzählen. Wenn man in Holland über die Strasse gehe und sich deutsch unterhalte, werde einem 'Heil Hitler'! nachgerufen. In der Disco in Amsterdam oder in London bekomme man vom Türsteher zu hören: "Scheiß-Nazis, haut doch ab!" Oder auch: "Bist du Deutscher? Der Krieg wird niemals enden!" Einige Jugendliche waren so durchdrungen von der Gewißheit, daß alles, was sie sagten, im Ausland nur gegen sie verwandt werden würde, daß sie mich beschworen, sie mit einigen ihrer Aussagen bitte nicht zu ziteren. Womit zum Beispiel? "Wenn Sie diesen Satz 'Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein', in der N. Y. Times schreiben, dann werden die Amis sagen: typisch deutsch! Dabei war der Satz gar nicht im Nazi-Sinn gemeint... Wir sind dort eben die Buhmänner!" Was und wie ich denn über sie schreiben solle, fragte ich. Alles müsse "sehr neutral" verfaßt werden, möglichst "wenig aussagekräftig", sonst werde es nur mißverstanden. Ich entnahm den Ratschlägen, daß ich zum Besten der deutschen Jugend einen todlangweiligen Artikel schreiben sollte, und wenn irgend möglich: einen unsichtbaren.
Ich bin nicht sicher, ob all die angeblich selbst erlebten Geschichten der Jugendlichen einer genauen Prüfung standhalten. Bei einigen stellte sich durch Nachfragen heraus, daß nicht der Erzähler, sondern der Bruder oder der Freund eines Freundes sie erlebt hatte. Es mag auch sein, daß manche der hier zitierten Erlebnisse als Projektionen eines nicht eingestandenen Schamgefühls zu lesen sind. Aber auch wenn ein Teil dieser Auskünfte ins Fach der "urban legends" gehören mag, so führen sie zu einem alarmierenden Befund. Viele zwanzigjährige Deutsche fühlen sich offensichtlich diskriminiert, zu Unrecht wegen Untaten beschuldigt, die sie nicht begangen haben, und treten mit entsprechenden Voreinstellungen in die Kommunikation mit den Nachbarn. Nach den Berichten, die ich gehört habe, werden übrigens die heftigsten antideutschen Affekte nicht von der Generation der Opfer des Nazifaschismus, sondern von deren Kindern und Kindeskindern geäußert. Vielleicht ist hier der Ort für eine kleine Anfrage an die nahen und fernen Nachbarn der Deutschen: Bekanntlich ist die Frage, ob die Deutschen ein normales Volk sind, nach wie vor umstritten. Aber will man eigentlich, daß die Deutschen ein normales Volk werden?

4.

(Die Schwierigkeiten und Defizite der Erinnerungsarbeit liegen nach meinen Beobachtungen gar nicht bei den Jugendlichen, sondern eher bei den Pädagogen und Politikern des Gedenkens. An dieser Stelle ist von den seltsamen bis schrecklichen Blüten zu reden, die die im Jahr der Jahrestage treibhausartig anwachsende Kultur des Erinnerns gedeihen läßt.
In der Gedenkstätte Sachsenhausen stieß ich auf ein "Sommerlager", das gemeinsam von "Aktion Sühnezeichen" und der Ausländerbeauftragten des Landes Brandenburg getragen wurde. Ein vages Unbehagen begleitete uns, als wir, der Fotograf Thomas Sandberg und ich, den Grasweg zu dem Ausgrabungsort suchten. Das "Sommerlager" hatte sich vorgenommen, in einem Außenbereich des ehemaligen KZ die Fundamente eines sogenannten "Sonderlagers" auszugraben, über das seit 1950 Gras gewachsen war. Wozu neue Fundamente ausgraben, wenn die sichtbaren dabei waren, zu verfallen?
In der Sommerhitze kamen uns junge Leute verschiedener Sprachen und Hautfarben entgegen - einige mit Spaten auf den Schultern. Wie waren sie zu diesem freiwilligen und unbezahlten Arbeitseinsatz in das ehemalige deutsche KZ geraten? Die meisten von ihnen hätten zu Nazi-Zeiten leicht Insassen werden können.
Es stellte sich heraus: Die Veranstalter des Projekts hatten, um die internationale Besetzung des Sommerlagers zu gewährleisten, gezielt in Asylantenheimen "Interessenten" angesprochen. Man hatte ihnen freie Verpflegung und Unterkunft versprochen, "Begegnungen mit jungen Deutschen", zusätzlich ein sogenanntes "Bewegungsgeld" von insgesamt 50 DM. Angesichts des in Deutschland geltenden Arbeitsverbots für Asylbewerber kann man sich vorstellen, daß das Angebot eine gewisse Verführungskraft hatte. Aber mußte es gleich so schlimm kommen, daß die Asylanten aus Afrika oder Bosnien, um aus den öden Heimen herauszukommen, in einem ehemaligen KZ mit einem Spaten in der Hand antreten mußten - zum Sühnegraben? Und was gruben sie dort aus? Nach wochenlangem Wühlen in der Hitze des Jahrhundertsommers war zwischen den frisch aufgeworfenen Erdhügeln ein Waschbecken zutage getreten, ein paar Kochgeschirre und die Ecke eines Küchenfundaments. Die 12 Ausgräber konnten sich vor den Handschlägen und Grußansprachen der Landespolitiker kaum retten.
In der Gedenkstätte Bergen-Belsen traf ich Schüler einer 10. Klasse aus Hannover-Linden. Vor die Wahl gestellt: "Waldeinsatz" oder "Spurensuche in der Gedenkstätte Bergen Belsen" hatten sie das letztere gewählt. Und warum? "Man lernt hier mehr als beim Bäumehacken", erklärte der 15jährige Moritz. Das Projekt wurde vom Landesjugendring der Deutschen Angestellten Gewerkschaft Niedersachsen getragen. Ich fragte nach ihren Gefühlen bei der Arbeit in der Gedenkstätte. "Nein, geheult hat noch keiner", sagt der fünfzehnjährige Moritz mit einem Blitzen des Erfolges in den Augen, aber "manchmal ist das schon ziemlich hart". Mit leuchtenden Augen berichtete er dann, die Gruppe habe beim Ausgraben über hundert Knöpfe, außerdem Gabeln, Schuhe, Ausweise und ein paar Fensterscharniere gefunden. Wo sie denn graben würden? Im Block 9 und 10 - "wahrscheinlich eine Effektenkammer". "Habt ihr nicht Angst, mal auf ein Skelett zu stoßen?" Moritz schüttelte den Kopf. "Das haben die Engländer damals schon ziemlich gut aufgeräumt"!
"Geschichte erleben, Geschichte anfaßbar machen, alle fünf Eingangskanäle ansprechen" erläuterte mir der kaum dreißigjährige Leiter das Projekt.
Derartige Obszönitäten sind die Frucht einer furchtbar gut gemeinten Bemühung deutscher Pädagogen und Erinnerungstheoretiker, die auf den Namen "Spurensuche" hört. Weg von den gefühlsneutralen Zahlen und Fakten, hin zum Erlebnis, zum emotionalen Nachvollzug! Daß hier Energien, die Jugendliche dieses Alters sonst auf Geländespiele und Schatzsucherei verwenden, zu einer höheren Art der Friedhofsschändung mißbraucht werden, scheint diesen Pädagogen zu entgehen.
Wie nah auf diesem Feld Mißgriff und notwendige Erneuerung beieinanderliegen, macht der Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Thomas Rahe, klar. Auch er betont die Notwendigkeit, ja Unausweichlichkeit einer emotionalen Auseinandersetzung mit der Geschichte. Ihm war ein charakteristischer Unterschied in den Reaktionen deutsch-israelischer Besuchergruppen aufgefallen. "Die jungen Deutschen sehen dann, daß die jungen Isrealis das ganz anders erleben, daß sie weinen."
Spätestens in einer solchen erlebten Konfrontation würden sich die Deutschen mehr oder minder bewußt als Erben einer Tätergeschichte erkennen. Und Rahe fährt fort: "Wir haben hier das Problem, daß die meisten deutschen Besucher noch nie in ihrem Leben einen lebendigen Juden gesehen, geschweige denn mit einem gesprochen haben." Das Wort "Jude" sei in Deutschland ein Synonym für Tod geworden, für Massenmord und völlige Auslöschung. Es könne nicht der Sinn der Erinnerungsarbeit sein, den grauenvollen Erfolg des Holocaust noch einmal zu bestätigen. Der Ausweg bestehe darin, nicht mit den Toten, sondern mit den damals Lebenden zu beginnen, im Bündnis mit ihnen Empathie zu erzeugen: durch Interviews, Zeugenberichte, genau dokumentierte Einzelschicksale.
In diegleiche Richtung argumentiert Katharina Kaiser, die eine neuartige und höchst erfolgreiche Ausstellung über die Vertreibung der Juden im Bezirk Berlin-Schöneberg organisiert hat: "Orte des Erinnerns". Nicht die Jugendlichen seien das Problem bei der Vermittlungsarbeit, sondern die ideologischen und emotionalen Sperren der Vermittler. Tränen der Wut und Verzweiflung seien beim Streit über die Konzeption der Ausstellung geflossen, erzählt sie. Die Historiker in der Runde wollten für die Ausstellung mit den Mitteln der herkömmlichen "Schock-Pädagogik" werben: Fotos von Leichenbergen, Haarbergen, Schuhbergen. (Hier gebe es ein kaum lösbares Generationsproblem. Die heute vierzig- oder fünfzigjährigen Lehrer seien zutiefst schockiert, wenn sie einen ihrer Schüler mit der Eistüte in der Hand vor einem Krematorium stehen sähen. Entsprechend suchten sie sie mit Schreckensbildern des Holocaust, sozusagen mit der Autorität des Megatods zur Ordnung zu rufen - Geschichte als Schock und Straf-Exerzitium. Kurz:) Die Fünfzigjährigen wollten die Jüngeren unbedingt auf ihr eigenes Geschichtsbild einschwören: ein auf den Tod, auf das Resultat des Holocaust fixiertes Geschichtsbild. Die Opfer als einstmals lebendige Individuen mit ihren Fehlern und Schwächen hätten darin keinen Platz. Verzeichnet seien in diesem Bild nur die - fast zu Heiligen entrückten - namenlosen Opfer, auf der anderen Seite die - durch ihr monströses Tun - ebenso entrückten Täter. Eben von dieser entpersonalisierten Art der Geschichtsvermittlung gelte es, Abschied zu nehmen. Die Opfer müßten endlich als ganz normale Menschen in ihrem Alltag dargestellt werden, als Nachbarn, Freunde: Rechtsanwälte, Bäcker, Wissenschaftler, Bankiers Arbeiter, Kriminelle in ihrem jeweiligen Stadtviertel. Dies sei auch die wirksamste Methode, um bei den heutigen Jugendlichen Empathie zu erzeugen. Denn in dieser Hinsicht sei die jetzige Generation viel "ehrlicher" als die 68er - sie sage sofort, wenn sie sich langweile oder angesprochen fühle.)

5.

Im Umkreis der Gedenkstätten war ich vorwiegend auf hochmotivierte und gut vorbereitete Jugendliche getroffen. Aber vielleicht gab es einen Fehler in meiner Versuchsanordnung. Solange ich nur allgemein nach dem Kenntnisstand über den Holocaust und der Haltung dazu fragte, fiel es den Jugendlichen nicht schwer, zu antworten. Die berühmten verharmlosenden faux-pas und Versprecher, mit denen die vierzig- siebzigjährigen deutschen Politiker immer wieder die Weltöffentlichkeit verblüffen, unterliefen dieser Generation nicht mehr. Sie war im Wissen um den Holocaust aufgewachsen, für sie war er, wie einer es formulierte, "Teil der deutschen Kulturgeschichte". Wie aber, wenn es um einen ganz konkreten Fall ging; wenn ihnen das deutsche Verbrechen nicht abstrakt, als ein Kapitel im Geschichtsbuch, sondern als Chronik einer Untat gegenübertrat, an der ihre eigenen Großeltern und deren Nachbarn - mindestens als Mitwisser - beteiligt waren?
Die Stadt Celle, 25 km von Hannover und 20 km von Bergen Belsen entfernt, ist den meisten Bundesbürgern allenfalls in Verbindung mit dem Beiwort "Loch" bekannt. Der Ausdruck "Celler Loch" bezieht sich auf eine von tadellos renovierte, barocke Haftanstalt aus dem 18. Jahrhundert, die wegen einiger spektakulärer Ausbrüche ihrer Langzeithäftlinge berühmt geworden ist. Die Stadt Celle selber erinnert den Besucher lieber an andere Vorzüge: zum Beispiel an ihre gut erhaltenen Fachwerkhäuser aus dem 16. und 17. Jahrhundert - weil der Stadtkommandant Paul Tzschökell die Stadt 1945 frühzeitig den anrückenden britischen Truppen übergab, blieb sie weitgehend von Bombenangriffen verschont - an das älteste Barocktheater Deutschlands und an eine fast unzerstörte Synagoge von 1740.
Die Celler Synagoge ist heute eine Synagoge ohne Gemeindemitglieder. Die jüdische Gemeinde der Stadt, die 1933 knapp 100 Mitglieder zählte und nach dem Krieg, als die überlebenden, von den Briten befreiten Juden von Bergen Belsen nach Celle strömten, auf über 1000 Mitgleider anschwoll, existiert nicht mehr. Die zwei - manche sagen auch sechs! - Celler Juden lassen sich nicht in der Synagoge sehen.
Sie wird - sozusagen treuhänderisch - von einem rührigen, christlich-jüdischen Verein am Leben erhalten, der interkulturelle Veranstaltungen organisiert.
Diese idyllische Stadt, in der man seine Einkäufe und den Gang zur Bank auf autofreien Wegen macht, deren peinlich sauber gehaltene Plätze wie ins Freie verlängerte Wohnzimmer anmuten, in der man die besterhaltenen Fachwerkhäuser, das älteste Barocktheater und das sauberste Deutsch antrifft, wurde kurz vor Kriegsende Schauplatz eines unerhörten Massakers, das Celler Bürger an der Seite von SS-, Volkssturm-, Polizei- und Feuerwehrkräften verübten. Ich beschloß, die Nachgeborenen von Celle zu befragen, ob und wie ihnen die folgende Geschichte überliefert worden war.
Am 8. April 1945, vier Tage vor der Kapitulation der Stadt, wurde auf Gleis 9 des Celler Güterbahnhofs ein Zug mit Dutzenden von Viehwaggons abgestellt; die Lokomotive war defekt und sollte ausgewechselt werden. Der endlos lange Zug stand dort stundenlang in der warmen Frühlingssonne. Die Anwohner, die in Bahnhofsnähe wohnten, konnten leicht erkennen, daß der Transportzug nicht mit Vieh beladen war. Von den Strassen westlich des Bahngeländes aus sahen sie in den offenen Waggons Menschen in der grau-blau gestreiften KZ-Kleidung. Sie bemerkten auch, daß immer wieder in Decken gehüllte "leblose Gestalten fortgetragen wurden" (so steht es in dem auf zahlreiche Zeugenaussagen gestützten Bericht des Historikers Mijndert Bertram, Celle 1989) - offenbar waren die Gefangenen seit Tagen nicht verpflegt worden. Der Transport umfaßte etwa 4000 Häftlinge aus den KZ- Lagern Drütte, Salzgitter, und den Aussenlagern von Neuengamme. Die meisten Häftlinge waren Zwangsarbeiter aus fast allen, von den Nazis okkupierten Gebieten; die Juden unter ihnen stammten hauptsächlich aus den Balkanländern, aus Polen und aus Deutschland. Der Zug, aus Drütte kommend, war für Bergen- Belsen bestimmt und sollte um 17.45 die Fahrt dorthin fortsetzen.
Kurz vor 18 Uhr bombardierten 3 Geschwader der 9. US-Flotte die Gleisanlagen. Nicht ahnend, daß in dem Viehzug tausende von Menschen zusammengepfercht waren, beschossen sie ihn und einen auf einem Nebengleis stehenden Munitionszug. Einige der Munitionswaggons explodierten. Die Häftlinge in den Waggons waren so einem dreifachen Feuer ausgesetzt: den Bomben der B 26, den Explosionen des nebenstehenden Munitionszuges und dem Maschinengewehrfeuer der SS-Wachmannschaft, die - obgleich sie selber im Hagel der Bomben und der umherfliegenden Munition stand- nicht ihre Pflicht vergaß, Häftlinge, die dem Inferno zu entkommen suchten, an "der Flucht zu hindern". Etwa 2000 Gefangene kamen sofort um, die anderen, viele von ihnen verletzt, halb verdurstet und verhungert, fanden den Weg ins Freie. Durch das alliierte Bombardement waren nicht nur die Gleisanlagen, sondern auch viele Häuser des Bahnhofsviertels in Trümmer gelegt worden; Hunderte von Einheimischen hatten den Tod gefunden.
Als nach etwa 70 Minuten die Geschwader abgedreht hatten, die Explosionen schwächer wurden, und sich der Qualm und Staub allmählich senkte, hatten die Anwohner der bahnhofsnahen Strassen eine Begegnung der dritten Art. Auf den Strassen, in den Gärten, auf den Treppen, in den Küchen kamen ihnen ausgemergelte, blutüberströmte Gestalten in der blau -grau-gestreiften KZ-Häftlings-Kleidung entgegen. Die Zeitzeugen legen Wert auf die Feststellung, daß die Frauen - die meisten Männer waren an der Front - KZ-Häftlinge und folglich deren Kleidung noch nie gesehen hatten. Im Allgemeinen, so faßt der Chronist der Geschichte, Mijndert Bertram die Zeugenberichte zusammen, habe sich die Bevölkerung durch die sichtlich entkräfteten und wehrlosen Menschen jedoch nicht bedroht gefühlt.
Einige der Celler Bürger ließen die Fremden, die sich an Essen, Trinken und Zivilkleidung nahmen, was sie fanden, gewähren; es gibt auch Berichte über Verpflegungen und erste Hilfe-Leistungen. Andere, offensichtlich die große Mehrzahl der Celler Bürger, jagten sie davon. Stadtkommandant Tzschökell erhielt die Meldung, die Insassen eines von Bomben getroffenen Gefangenentransportzuges hätten sich "mit den Waffen ...der Bewachermannschaften ausgerüstet", und würden "in der Neustadt plündern und Gewalttaten verüben". Er setzte eine aus Versprengten und SA-Leuten bestehende Kompanie in Marsch, um "die Ruhe und Ordnung wiederherzustellen".
Was nun geschah, ist in die oral history der Region als "Hasenjagd" eingegangen - die Geschichte des Massakers wurde in Celle gute vierzig Jahre lang nur mündlich überliefert. Das Verdienst, sie der schriftlichen Darstellung und damit der Forschung zugänglich gemacht zu haben, gebührt zwei Celler Bürgern: RWLE Möller, der 1987 mit seinem "Celler Lexikon" erstmals schriftlich auf die Untat verwies und dem Historiker und heutigen Direktor des Stadtmuseums Mijndert Bertram. Er legte 1989 eine erste wissenschaftliche Monographie über das Massaker vor. Danach veranstalteten Uniformierte und nicht Uniformierte (sogenannte "Goldfasane", die es irgendwie geschafft hatten, um den Dienst an der Front herumzukommen) eine regelrechte Hatz auf die Fremden in den grau-blauen Kleidern, die - so ein Augenzeuge - "wie Hasen über Feld jagten". Wahllos schossen die "Jäger" in den Blumengärten und auf den Strassen in die Fliehenden hinein. An der Hatz, so heißt es in der Anklageschrift des englischen Anklägers, nahmen Mitgleider der SS, der Wehrmacht und Polizei und auch gewöhnliche Zivilisten teil: darunter ein Arbeiter, ein Kaufmann, ein Elektromeister, ein Baukontrolleur, ein Heizungsmonteur, ein Schriftsetzer. Keiner der Angeklagten gab vor dem Gericht zu, der Angreifer gewesen zu sein. Alle waren angeblich von den KZ-Häftlingen in ihren Wohnungen "tätlich angegriffen, bestohlen oder bedroht" worden und hatten "in Notwehr" gehandelt. Sie redeten gar von "Gnadenschüssen", die sie den schwer Verletzten gegeben hätten. Aber Zeugen, fast durchwegs Frauen, berichteteten, daß schwer verletzte Häftlinge aus den Kellern gezerrt, erschossen und erschlagen wurden. Einige der "Jäger" hatten sich nachträglich sogar damit gebrüstet, wieviele sie "umgelegt" hatten. Eine Krankenschwester, die einem Kz-Häftling Wasser reichte, mußte hören: "Wenn ihr diesen Schweinen Wasser gebt, dann seid ihr genau solche Schweine."
Wieviele der Flüchtlinge bei der "Celler Hasenjagd" den Tod fanden, steht nicht genau fest. Noch zwei Tage nach dem Bombardement, am 10.April 1945 waren im Neustädter Holz Schüsse zu hören. In dem späteren, als "Celle Massacre Trial" bezeichneten Prozess vor einem britischen Militärgericht wurde die Zahl mit 200 bis 300 angegeben.
Im Bericht des Stadtkommandanten Tzschökell fand das Massaker in einem einzigen Satz Erwähnung: "Die Ausführung des Befehls wurde gegen 24 Uhr gemeldet, die Kompanie hatte einen Verwundeten."
Der "Celle Massacre Trial" vor dem britischen Militärgericht endete im April 1948 mit 3 Todesstrafen, 5 Zeitstrafen zwischen 4 und 10 Jahren und 5 Freisprüchen. Im August 1948 wurden die Urteile vom britischen Militärgouverneur kassiert bzw. in Zeitstrafen verwandelt. Bis zum Oktober 1952 waren alle Verurteilten wegen "guter Führung" vorzeitig entlassen.
Im Celler Telefonbuch suchte ich nach den Namen der damals Angeklagten und Verurteilten. Ich stieß auf den Namen Luhmann - "Holzfachmarkt Luhmann, Sägewerk Luhmann". Im Celler Prozess war der Kaufmann Heinrich Luhmann von einer Krankenschwester als einer der schlimmsten Jäger namhaft gemacht worden. Mit seinem Karabiner habe er wahllos auf freiem Feld flüchtige Häftlinge abgeschossen, darunter auch einen Schwerverletzten, den sie selbst verbunden habe. Später habe er sich damit gebrüstet, "sieben Mann erledigt" zu haben. Obwohl stark belastet, war Luhmann wegen nicht ausreichender Beweise (- er machte vor Gericht geltend, daß er die Krankenschwester einst bei den Nazis angezeigt hatte und unterstellte ihr deswegen Rachegelüste -) freigesprochen worden.
Ich versprach mir nichts von einem Telefonanruf und entschied mich dafür, Luhmanns Enkel, wenn er denn welche hatte, mit meinem Besuch zu überraschen.
Der Prozess hatte dem damals Angeklagten offenbar nicht geschadet - Luhmanns Holzhandel erwies sich als ein kleines Holzimperium. Auf dem Gelände an der Ausfallstrasse nach Westen standen gleich drei stattliche Gebäude - eine Verkaufshalle, eine Sägerei und ein Depot. Ich fragte einen Firmenfahrer, den ich auf dem Gelände traf, nach "Herrn Luhmann." Welchen Herrn Luhmann ich denn suchte, Heinrich oder Henry? "Herrn Luhmann" erwiderte ich in bestimmtem Ton. Der Fahrer zeigte auf einen Bürotrakt.
Nachdem ich durch mehrere Vorzimmer hindurchgewunken worden war, stand ich "Herrn Luhmann" schließlich gegenüber - einem blonden, gut aussehenden jungen Mann im hellen Anzug, der eigentlich noch ein Junge war. Um ihn herum an den Tischen sassen lauter vierzig - und fünzigjährige Mitarbeiter, aber der hier hatte das Sagen, er war der Chef. War es nun Heinrich oder Henry? Die Liebe der Familie zum alten, damals angeklagten Heinrich muß, bei so geringen Abweichungen von dessen Namen, groß gewesen sein.
Ich entschuldigte mich für den Überfall. Ob Herr Luhmann bereit sei, mir ein paar Fragen zu beantworten? Mich interessiere, was die jungen Deutschen über den Holocaust wissen oder denken. Nur zehn Minuten?
"Nein!" sagte Heinrich oder Henry.
"Warum nicht?"
"Keine Zeit, außerdem weiß ich nicht, was es dazu noch zu sagen gibt."
"Wußten Sie, daß Ihr Großvater im Celler Kriegsverbrecherprozess einer der Hauptangeklagten war?"
"Mein Großvater?"
"Heinrich Luhmann!"
"Das war mein Urgroßvater! Nein, da wußte ich nicht. Aber ich habe wirklich keine Zeit. Wenn Sie wollen, können Sie gerne meine Mitarbeiter zu Ihrem Thema befragen."
Mit großzügiger Geste deutete er auf seine vierzigjährigen Angestellten an den Tischen.
Als ich im Auto nachrechnete, machte die einzige Auskunft, die ich von Heinrich oder Henry erhalten hatte, Sinn. Er konnte durchaus der Urenkel des schlimmen Heinrich sein. Daß er mir nicht mehr verraten wollte - verübeln konnte ich es ihm nicht. Ich hatte ihn überfallen. Und vielleicht wußte er wirklich nicht, daß sein Urgroßvater als Kriegsverbrecher angeklagt worden war. Aber warum interessierte ihn diese Tatsache überhaupt nicht? Warum war sie ihm nicht eine kleine Nachfrage wert? Eines bewies der Reflex, auf den Urgroßvater ja nichts kommen zu lassen, wohl doch: wenn es um die eigene Familie geht, sind nicht einmal die Urenkel unbefangen.
Die Kaiserin-Augusta-Victoria- Schule ist eines der ältesten Gymnasien von Celle. Die Ahnengalerie der Schuldirektoren, bei deren Anblick man sich still dazu beglückwünscht, ihnen nicht in einer Schulbank gegenübergesessen zu haben, reicht bis in die Zeit Napoleons und der Freiheitskriege zurück. Das "KAV", wie die Schüler ihre Schule auf ihren Aufklebern nicht ohne Stolz nennen, verdankt seinen Namen der 1. Ehefrau des letzten deutschen Kaisers. In der lichtdurchfluteteten Aula mit dem Barockstuck an der Decke und dem idealisierten Bild der Kaiserin an der Wand war der "Celle Massacre Trial" 1947 eröffnet worden. Die Kaiserin im üppigen Spitzenkleid, muß damals mit demgleichen mildem Lächeln auf Luhmann und Co, geschaut hatte, mit dem sie heute die Halbwüchsigen in ihren bedruckten T-shirts und ihren Turnschuhen anblickt.
In dieser Schule begrüßte mich der jüngste Gymnasialdirektor Deutschlands. Herr Ostermeier, ein weltmännisch wirkender Mann, stellte mich einer 12. Klasse vor, die er in "Werte und Normen" unterrichtet. Als Gäste nahmen die vier Schulsprecher an dem Gespräch teil. Ich begann mein Interview mit dengleichen Fragen, die ich an Jugendliche in Berlin und Umgebung gerichtet hatte. Dann fragte ich nach dem "Celler Massacre Trial" und der "Hasenjagd".
Zwei aus der Klasse wußten von dem Celler Massaker und waren auch in der Lage, darüber etwas zu erzählen. Nur fehlte in der Wiedergabe ein entscheidendes Detail: daß die Mörder eben nicht nur SS-Wachmannschaften, Polizeikräfte etc. gewesen waren, sondern auch gewöhnliche Celler Bürger. Als ich meine Version der Geschichte erzählt hatte, blieb es eine Weile still. Alle Schüler, die sich äußerten - auch diejenigen, die zuvor der Meinung waren, es sei generell zuviel vom Holocaust die Rede - fanden es wichtig, dieses Kapitel der Stadtgeschichte zu kennen. Die "direkte Verbindung" mache die große, die allgemeine Geschichte "begreiflicher", zwinge zur Auseinandersetzung und rücke alles näher als, zum Beispiel, eine Stunde über die Fakten des Münchner Abkommens. Ich spürte seitens der Schüler keine Abwehr, kein falsche Loyalität, keinen Reflex, die "Ehre der Stadt" um jeden Preis zu verteidigen. Timo, einem der Schulsprecher, fiel auf, daß unter den Angeklagten des "Celler Massacre Trial" eine ganze Reihe von Celler Bürgern waren, "die hier in Celle gut mitgemischt haben". Plötzlich könne und müsse man sich fragen, was eigentlich in den Köpfen von Menschen vorging, die "die die Leute wie Karnickel abgeknallt" hätten. Allerdings sei es für ihn, wenn er das frage, wichtig, die Täter persönlich nicht zu kennen: "da ist die Grenze erreicht, wo man wieder Schuldgefühle entwickeln kann".
Gleichzeitig vermißte ich etwas. Die Schulsprecher fanden die Geschichte - mit der vorsätzlichen Unerschreckbarkeit, die deutsche Intellektuelle, ob alt oder jung, sich und der Welt zu schulden glauben - "interessant"; "im Prinzip nicht anders als eine Geschichte in den Südstaaten, wo wohlsituierte Bürger Jagd auf schwarze Sklaven machten". So etwas könne immer wieder passieren, die Menschen hätten sich nicht verändert. Und es gab ein seltsames Zögern, fast eine Weigerung, über die Täter und die politisch Verantwortlichen jener Zeit ein Urteil abzugeben. Der damals regierende Oberbürgermeister, Ernst Meyer, hatte sein Amt 1924 angetreten und es sich erfolgreich durch alle politischen Wenden bis 1945 erhalten. Auf sein jahrelanges Bitten hin war er, nachdem er zuvor der SS und der NSV beigetreten war, 1941 durch einen Gnadenerlaß Adolf Hitlers endlich Parteigenosse geworden. Auf die Frage, ob es richtig sei, daß der Name jenes Bürgermeisters, der mindestens formal die Verantwortung für das Massaker mittrug, in einer bedeutenden Strasse der Stadt, der "Ernst -Meyer-Allee" verewigt sei, sagte Timo: "Überhaupt kein Problem, wenn er sonst ein kompetenter Kerl war." Er habe ohnehin Schwierigkeiten, zu verstehen, daß Leute jetzt noch, so lange Zeit danach, zur Verantwortung gezogen würden. Und er vermute, daß "diejenigen, die ganz vorne bei solchen Anklagen mitmischen....,die ersten wären, die im Fall eines solchen Systems andere verfolgen würden."
Aus der Urteilsscheu der Schüler sprach ein Gefühl für fairness, auch ein durchaus angebrachtes Mißtrauen gegen das Urteilen aus sicherem Port. Andererseits, dies wurde immer deutlicher, auch eine Art erlernter Ratlosigkeit. Auf die Frage, wie sie jemanden bewerten würden, der bei der Celler "Hasenjagd" einen verwundeten Flüchtling in den Kopf geschossen hätte, sagte Swantje, ebenfalls eine Schulsprecherin: "Man hat nicht das Recht zu urteilen, wenn man selber nicht in dieser Situation steht. Ich würde jetzt sagen: auf jeden Fall nicht schießen!... Aber ich würde nicht jemanden verurteilen, der sich anders verhält!" Frage: Wenn sich nun aber jemand tatsächlich anders verhalten und zum Beispiel einen Flüchtling bei sich versteckt hat - sollte man nicht lieber nach dem eine Strasse benennen, statt nach dem Handlanger des Gewaltregimes? Antwort von Timo: "Wenn einer tausend gute Sachen gemacht hat und eine böse, sollte man ihn nicht auf die böse reduzieren!"
Das Zurückscheuen vor dem Urteil betrifft selbst Fragen wie die, wer am 2. Weltkrieg schuld sei. "Ich maße mir da kein Urteil an..."antwortete einer der Schulsprecher. "Pauschal zu sagen, Deutschland hatte schuld am 2. Weltkrieg, das ist ein Urteil, das fast in keinem Krieg dieser Welt möglich ist. Die Schuldfrage ist nie mit letzter Konsequenz zu klären. Gut, beim Golfkrieg (gegen Saddam Hossein), da kann man vielleicht sagen..." Und auf die Nachfrage, ob der Satz, daß Hitler Polen überfallen habe, zutreffe, war zu hören, sicher liege der "überwiegende Teil der Schuld" bei Hitler, aber zum "Überfallen gehören zwei".
Andreas aus der Axel-Brunsschule - einer berufsbildenden Schule in Celle - fand die Geschichte, wie ich sie erzählte, sogar manipulativ: "Eine typische einseitige Geschichte, in der erzählt wird, ja die Bösen, das sind die und die....Ich will das nicht beschönigen, aber da haben Leute jahrelang unter Druck gestanden, die das wirklich eingetrichtert bekommen haben: `Juden sind minderwertig`...., irgendwann verändert man da sein Wesen!" Auf die Frage, ob man einen Großvater, der einem Flüchtling in den Kopf geschossen hatte, ebenso "verstehen" müsse wie die Krankenschwester, die ihn verbunden und ihm Wasser gegeben hatte, kam die Antwort: "Grundsätzlich ja!" Schließlich würden ja die Mauerschützen, die auf fliehende DDR- Bürger geschossen hätten, die Generäle, die den Befehl dazu gaben, die Richter, die solche Flüchtlinge anschließend zu Gefängnisstrafen verurteilten, auch nicht zur Verantwortung gezogen!
(Anfang September, als ich diese Antwort bekam, konnte ich sie korrigieren, denn damals war sie - noch - falsch. Inzwischen hat der Bundesgerichtshof entschieden, daß Richter und Staatsanwälte der ehemaligen DDR, die krasse Unrechts- Urteile fällten, nicht belangt werden können, solange sie sich dabei im Rahmen des DDR-Rechts hielten. Die Schüler haben also mit ihrem Einwand Recht behalten. Die deutsche Gesellschaft läßt keine Gelegenheit aus, ihrer Jugend immer von neuem beizubringen, daß man jedes Unrecht der Welt straflos begehen kann, solange es den Segen der Obrigkeit genießt. Es ist bekannt, daß die Verbrechen der Nazi-Justiz nie gesühnt worden sind. Keiner ihrer Richter und Staatsanwälte wurde in der BRD jemals vor Gericht gestellt oder hat auch nur eine Kürzung seiner Pension hinnehmen müssen. Nach einer famosen deutschen Logik ergibt sich nun aus diesem Versagen die heilige Pflicht zu immer weiterem Versagen: man darf die DDR-Richter nicht zur Verantwortung ziehen, weil man schon die Nazi-Richter hat davonkommen lassen und so fort)
Es gibt noch einen, viel simpleren Grund für die moralische Unsicherheit der Jugendlichen: vorenthaltene Information, Wissensmangel. Die große Mehrzahl der von mir Befragten zeigte sich davon überzeugt, der Terrorapparat der Nazis sei derart perfekt gewesen, daß Widerstand dagegen unmöglich war: Wer sich einem Befehl widersetzte, "wurde gleich mit an die Wand gestellt". Es überraschte sie, zu hören, daß es nach bisherigem Wissensstand keinen dokumentierten Beweis dafür gibt, daß irgendeiner der ca. 40 000 SS-Wachmannschaften in den KZ dieses Schicksal hätte erleiden müssen. Daß die meisten Verhaftungen der GESTAPO nicht dank polizeilicher Arbeit, sondern aufgrund von Denunziationen erfolgten, ist viel zu wenig bekannt. Ebensowenig, daß man nicht immer gleich sein Leben riskieren mußte, wenn man nicht gehorchte. Die Jugendlichen wissen vom 20. Juli, vom Kreisauer Kreis, von der "Weißen Rose". Weniger dramatische, aber erfolgreiche Widerstandsaktionen, wie z. B. der Protest gegen die Kreuzabnahme in den bayrischen Kirchen, der Widerstand gegen die Euthanasie, die tagelange (und erfolgreiche) Demonstration "arischer" Frauen in der Rosenstrasse, die 1943 die Freilassung ihrer bereits zum Abtransport versammelten jüdischen Männer erzwangen, sind an die heranwachsende Generation nicht überliefert worden.
Die geringen bis einseitigen Kenntnisse über den Widerstand im Dritten Reich weisen auf ein Defizit der Lehrer und Vermittler hin. Die 68er- Theorie vom allgewaltigen, "strukturellen" Faschismus ("Kapitalismus führt zum Faschismus, Kapitalismus muß weg!") vertrug sich prächtig mit dem beständigen Verweis der Väter auf den "Befehlsnotstand". Und die bis heute geübte Privilegierung des 20. Juli und ähnlicher, spektakulär gescheiterten Widerstandsaktionen verstärkt die Botschaft der Täter-Generation: Verweigerung, Widerstand kostete das Leben und war am Ende doch erfolglos!
In einem bedeutsamen Punkt, so scheint mir, hat die Generation der Großväter ihre Lesart der Geschichte des 3. Reiches, -genauer, ihren Rechtfertigungsmythos - an die Enkel weitergegeben: die Behauptung von der Unmöglichkeit bzw. Sinnlosigkeit der Verweigerung. Damit diese Behauptung wahr wurde, durften diejenigen, die sich tatsächlich und - womöglich erfolgreich! - dem angeblich "lückenlosen System" des Terrors entzogen und Verfolgten geholfen hatten, nicht allzu sichtbar werden. Denn jeder von ihnen stand störend in dem milden Licht, das auf die große Mehrzahl der Willfährigen und Gehorsamen fiel. Warum gibt es nach den jüngsten Strassen-Umbenennungen in Berlin nicht eine einzige, die an eine der Tausende von Unbekannten erinnert, die in Berlin Juden bei sich versteckt und gerettet haben? Von ihnen ist in der Berliner Öffentlichkeit nur die Rede, wenn sie mit dem höchsten israelischen Orden "Gerechte der Völker" ausgezeichnet werden.
Der gebieterische Anspruch der Großväter-Generation auf Verständnis, ihr unermüdliches Warnen vor dem raschen Urteil hat sich bei den Enkeln als Urteilsscheu und moralischer Relativismus niedergeschlagen. Die Tatsache, daß Menschen sich unter gleichen Bedingungen keineswegs gleich verhalten, daß es folglich keinen Automatismus des Versagens gab und gibt, ist im Geschichtsbewußtsein der Jungen kaum präsent.
(Seit jeher haben die Deutschen mehr Verständnis für die Mitläufer und Täter aufgebracht, als für diejenigen, die sich der Gewaltherrschaft in den Weg stellten oder sich verweigerten. Diese Gefühlstradition hat sich prompt auch gegenüber den Dissidenten aus der ehemaligen DDR durchgesetzt: bereits heute, fünf Jahre nach der Wiedervereinigung, stehen sie als "Neurotiker" (ein Ausdruck des Schriftstellers Stephan Heym) und als politische Verlierer da. Es scheint, aus Rücksicht auf die vielen Mitläufer sehen sich die Deutschen immer wieder gezwungen, ihre paar Helden zu vergessen.
Natürlich schwingt in diesem Verständnis für die Mitläufer ein durchaus egoistisches Motiv mit. Mit dem scheinbar bescheidenen Satz, man könne nicht urteilen, weil man nicht wisse, wie man sich in einer vergleichbaren Situation verhalten würde, stellt man sich einen Bonus für die Zukunft aus. Man klagt ein "Menschenrecht zur Kollaboration" ein.)
Einer der Schulsprecher gab wohl die Zusammenfassung, mit der sich die meisten identifizieren konnten: "1. Ja, es war möglich, sich zu widersetzen. 2. Man hätte sich widersetzen sollen. 3. Ich kann absolut nichts darüber sagen, ob ich es gemacht hätte. Denn wenn ich ein Haus besitze, eine Frau und zwei Kinder - ich weiß nicht, ob ich das Risiko eingegangen wäre, anderen Menschen zu helfen....Ich würde mich gern damit brüsten, ich hätte es getan, aber.." Gut, aber sollen wir, soll die Gesellschaft von ihren Bürgern verlangen, für die Menschenrechte ein persönliches Risiko einzugehen, notfalls sogar das Risiko des eigenen Lebens? Selbst wenn keiner von uns weiß, ob er es im Ernstfall eingehen würde?
Ein gewisses Schweigen, ein Zögern. Dann: "Ja, auf jeden Fall...Und ein anderer: "Ich finde das auch. Das wäre ja im Prinzip die Lösung: Wenn man sich darauf verlassen könnte, daß der Nachbar es genau so macht. Aber ich glaube, das wäre gegen die menschliche Natur." Aber sollte man es verlangen? "Verlangen kann man das von keinem Menschen. Da sind diese inneren Barrieren! Das muß jeder mich sich selber ausmachen!"
Von der BBS II in Celle, einer berufsbildende Schule, in der hauptsächlich weibliche Sozialarbeiter, Friseusen, Erzieher ausgebildet werden, bis zum Mahnmal für die Ermordeten des 8. bis 10. April 1945 sind es nur 200 Schritt. Keiner der Schülerinnen und Schüler wußte von der Existenz dieses Mahnmals; nachdem ich die Geschichte vom Celler Massaker erzählt hatte, beschloss die Klasse spontan, dort hinzugehen. Wer vor dem Mahnmal steht, begreift sofort, warum es bisher niemand aufgefallen war. Sein größter ästhetischer Ehrgeiz scheint Unauffälligkeit zu sein. Tatsächlich gleicht es einem stark befestigten Sandkasten. In der Mitte einer quadratischen Fläche aus Kies und Steinen steht ein schütterer, noch sehr junger Blätterbaum, der von einem kupfrig schimmernden Metallquadrat eingefaßt wird. Eine ins Metall gestanzte Schrift erinnert an das Massaker. Tatsächlich ist das Mahnmal kaum zu bemerken - "Ein Hohn! Von den 250 eingereichten Entwürfen der weitaus schlechteste!" schimpft die Celler Bürgerin Gertrud Schröter, die noch heute, mit 82 Jahren, Führungen durch Bergen Belsen leitet. "Im Kasten spielen die Kurdenkinder. Und wenn der Baum in der Mitte die Blätter abwirft, ist der Text zugedeckt. So soll es wohl auch sein"!
Und dennoch - wie ich an dem Erinnerungs-Bäumchen mit diesen kaum erwachsenen Deutschen in der Sonne stand - alle wißbegierig und bereit, sich auf den nächsten guten Vorschlag einzulassen, wie sich irgendetwas Gutes aus der schlimmen Geschichte machen ließe - dachte ich: Was soll mit denen schon schief gehen? Von den drei Generationen, die ich kenne, sind die hier mit ihrem Realismus und ihrer Skepsis gegen sich selbst und den "guten Menschen" am wenigsten in Gefahr, auf einen Rattengänger hereinzufallen. Und außerdem stimmt es doch: Sie haben wirklich nichts damit zu tun - nichts zu verbergen, nichts zu vertuschen! Wenn die Lehrer und Vermittler ihnen nur erlaubten, so schuldlos zu sein, wie sie sind und sie nicht immer wieder unfreiwillig zu Komplizen der "Hasenjäger" machten!
Im Frühling 1995 öffnete das Museum für Volkskunde, Landes- und Stadtgeschichte eine Ausstellung über "Celle '45- Aspekte einer Zeitenwende". Die Ausstellung ist sorgfältig und mit Liebe zum Detail gestaltet. Aber auf der Texttafel mit dem Stichwort "Kriegsopfer und Kriegsschäden" ist die Geschichte, von der hier die Rede war, merkwürdig kurz geraten; die Celler "Hasenjäger" sind aus ihr verschwunden. "Hierbei (bei der Bombardierung vom 8. April) waren viele Opfer sowohl unter der Zivilbevölkerung als auch unter den KZ-Häftlingen zu beklagen, von denen einige Hundert darüberhinaus auf der Flucht getötet wurden."
To insert on page 8, 3. Paragraph, maybe instead of the story on the digging asylants in Sachsenhausen, replacing also the rest of Page 9. This insertion covers the Yonathan Rothman story and the new german interest in the "living" jewish culture).
Eine Gedenkstätte, der es nur um die historische Wahrheit geht, muß wohl noch erfunden werden. In vielen Fällen muß man von einem Erwürgen der Erinnerung im Namen des Gedenkens sprechen.
Ein Beispiel dafür ist die Gedenkstätte Sachsenhausen. Sachsenhausen war eines der ersten von den Nazis eingerichteten Internierungs- Lager. An die 204 000 Menschen aus 47 Nationen sind hier von 1936 an eingeliefert worden, etwa die Hälfte von ihnen wurde -je nach dem technischen Stand der Nazi- Mordmaschine- umgebracht. Im Jahre 1961 errichtete die DDR auf dem KZ-Gelände eine Gedenkstätte. Aber das erste Werk des Gedenkens war die Verdrängung eines unmittelbar zurückliegenden Verbrechens, das im Namen des Antifaschismus begangen worden war. Ein Teil des Nazi-Lagers war von 1945 - 1950 von den sowjetischen NKWD zur Internierung von ca. 150 000 Häftlingen benutzt worden. Etwa 20 000 - andere Schätzungen sprechen von 70 000 - waren bis 1950 an Hunger, Ödemen, TBC und an den Folgen von Bestrafungen gestorben. Die DDR-Planer gestalteten die Gedenkstätte ganz nach den propagandistischen Bedürfnissen des jungen Staates aus: das ehemalige KZ wurde als Symbol des "antifaschistischen Kampfes" ausgebeutet. Erst auf den vehementen Protest aus Israel wurde die Judenverfolgung überhaupt - durch die Einbeziehung der zwei, hauptsächlich mit jüdischen Häftlingen belegten Baracken 38 und 39 - dokumentiert. Diese beiden Baracken wiederum wurden im September 1992 durch einen Brandanschlag von Neonazis fast ganz zerstört.
Die verbrannten, "jüdischen" Baracken sind heute nur in einer Foto-und - Textdokumentation erhalten. Und so bestimmt nun, dank eines denkwürdigen Zusammenwirkens zwischen Brandanschlag und "Geldmangel" des Landes Brandenburg, die alte, von den Kommunisten dirigierte Geschichtsschreibung das Erinnerungsbild. Im "Lagermuseum", das aus DDR-Zeiten stammt, werden die Internierten und Ermordeten aus 47 Nationen aufgezählt, das Wort "Wort" Jude taucht nicht ein einziges Mal auf; mit einer bezeichnenden Ausnahme: es findet sich in den zitierten Nazi- Erklärungen der dort ausgestellten Nazi-Symbole - und Stempel:"Jüdischer Rasseschänder","Jüdischer Emigrant" etc. Nach der Darstellung des "Lagermuseums" waren deutsche und sowjetische Kommunisten die Hauptopfer in den KZ. Wenn man das Lagermuseum verläßt, hat man den Eindruck, die Gemarterten und Ermordeten von Sachsenhausen hätten in den Jahren ihres Martyriums nur eines im Sinn gehabt: den Aufbau eines deutschen Arbeiter- und Bauernstaates namens DDR.
Auch in dem heute noch gezeigten DDR -Propagandafilm "Todeslager Sachsenhausen" - er wurde 1946 unter Einbeziehung von NKWD-Häftlingen, die in einigen Einstellungen als KZ-Häftlinge posieren mußten, für die DEFA produziert - sind als Opfer der Nazis ausschließlich sowjetische Kriegsgefangene und deutsche Kommunisten genannt, Juden und andere Opfer werden nicht erwähnt.
Yonathan Rothman, dem israelischen Teilnehmer einer deutsch-israelischen Besuchergruppe, standen Tränen des Zorns in den Augen. Warum man ihnen diesen Film gezeigt habe, fragte er draußen vor dem Kinosaal den Führer des Rundgangs. Man habe einen Dokumentarfilm angekündigt und habe einen stalinistischen Propagandafilm gezeigt. Er sehe das Schicksal seiner Verwandten und seines Volkes in diesem Film nicht vertreten, sondern ignoriert und totgeschwiegen, zu politischen Zwecken mißbraucht - und dies in einer angeblichen Gedenkstätte. Er würde genauso reden, wenn in einer westdeutschen Gedenkstätte die Opfer unter den deutschen Kommunisten und sowjetischen Kriegsgefangenen unterschlagen würden.
Später fragte ich ihn, wie er zu seinem blutunterlaufenen Auge gekommen war. Zwei Tage zuvor war er beim nächtlichen Heimweg in Potsdam von zwei Skinheads verfolgt worden. Sie hatten sich genähert, ihm pöbelnd Fragen nach dem Woher und Wohin gestellt, einen gewissen Akzent aus seinen Antworten herausgehört und waren dann über ihn hergefallen. Ich sah ihn ungläubig an. Yonathan ist weiß, seine Augen sind blau, er ist in Bayern aufgewachsen und spricht perfekt Deutsch. Das Einzige, was in einer Stadt wie Potsdam an ihm auffallen mochte, war der kurze, zum Pferdeschwanz gebundene blonde Haarzopf.
"Das ist es doch" erwiderte Yonathan. "Es genügt, ein Blonder, Langhaariger mit oder ohne Akzent zu sein, um halbtot geschlagen zu werden." Wenn er sich dann noch vorstelle, daß die beiden Skinheads als Schüler in einer Gedenkstätte wie Sachsenhausen über die deutsche Vergangenheit "aufgeklärt" worden seien, füge sich alles zusammen. Deswegen protestiere er auch so nachdrücklich gegen die politische Indienstnahme seiner Skindhead-Geschichte durch die israelische Presse. Er sei eben nicht, wie dort berichtet, in Deutschland verprügelt worden, "weil er Jude war". Von seiner jüdischen Idendität hätten die beiden Schläger gar nichts wissen können, da er sich, in der Hoffnung auf bessere Behandlung, als Amerikaner ausgegeben habe. Von diesem Detail habe man in Israel, wo Menschen manchmal verprügelt würden, weil sie wie Palästinenser aussehen, nichts wissen wollen.
Die Schwierigkeiten und Defizite der Erinnerungsarbeit liegen nach meinen Beobachtungen nicht bei den Jugendlichen, sondern bei den Pädagogen und Politikern des Gedenkens. In der Gedenkstätte Bergen-Belsen traf ich Schüler einer 10. Klasse aus Hannover-Linden. Vor die Wahl gestellt: "Waldeinsatz" oder "Spurensuche in der Gedenkstätte Bergen Belsen" hatten sie das letztere gewählt. Und warum? "Man lernt hier mehr als beim Bäumehacken", erklärte der 15jährige Moritz. Das Projekt wurde vom Landesjugendring der Deutschen Angestellten Gewerkschaft Niedersachsen getragen. Ich fragte nach ihren Gefühlen bei der Arbeit in der Gedenkstätte. "Nein, geheult hat noch keiner", sagt der fünfzehnjährige Moritz mit einem Blitzen des Erfolges in den Augen, aber "manchmal ist das schon ziemlich hart". Mit leuchtenden Augen berichtete er dann, die Gruppe habe beim Ausgraben über hundert Knöpfe, außerdem Gabeln, Schuhe, Ausweise und ein paar Fensterscharniere gefunden. Wo sie denn graben würden? Im Block 9 und 10 - "wahrscheinlich eine Effektenkammer". "Habt ihr nicht Angst, mal auf ein Skelett zu stoßen?" Moritz schüttelte den Kopf. "Das haben die Engländer damals schon ziemlich gut aufgeräumt"!
"Geschichte erleben, Geschichte anfaßbar machen, alle fünf Eingangskanäle ansprechen" erläuterte mir der kaum dreißigjährige Leiter das Projekt.
Derartige Obszönitäten sind die Frucht einer furchtbar gut gemeinten Bemühung deutscher Pädagogen und Erinnerungstheoretiker, die auf den Namen "Spurensuche" hört. Weg von den gefühlsneutralen Zahlen und Fakten, hin zum Erlebnis, zum emotionalen Nachvollzug! Daß hier Energien, die Jugendliche dieses Alters sonst auf Geländespiele und Schatzsucherei verwenden, zu einer höheren Art der Friedhofsschändung mißbraucht werden, scheint diesen Pädagogen zu entgehen.
Wie nah auf diesem Feld Mißgriff und notwendige Erneuerung beieinanderliegen, macht der Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Thomas Rahe, klar. Ihm war ein charakteristischer Unterschied in den Reaktionen deutsch-israelischer Besuchergruppen aufgefallen. "Die jungen Deutschen sehen dann, daß die jungen Isrealis das ganz anders erleben, daß sie weinen."
Spätestens in einer solchen erlebten Konfrontation würden sich die Deutschen mehr oder minder bewußt als Erben einer Tätergeschichte erkennen. Und Rahe fährt fort: "Wir haben hier das Problem, daß die meisten deutschen Besucher noch nie in ihrem Leben einen lebendigen Juden gesehen, geschweige denn mit einem gesprochen haben." Das Wort "Jude" sei in Deutschland ein Synonym für Tod geworden, für Massenmord und völlige Auslöschung. Es könne nicht der Sinn der Erinnerungsarbeit sein, den grauenvollen Erfolg des Holocaust noch einmal zu bestätigen. Der Ausweg bestehe darin, nicht mit den Toten, sondern mit den damals Lebenden zu beginnen, im Bündnis mit ihnen Empathie zu erzeugen: durch Interviews, Zeugenberichte, genau dokumentierte Einzelschicksale.
Das neu erwachte Interesse am "jüdischen Leben" vor und nach dem Massenmord zeigt sich in einigen neuen Ausstellungen und Denkmälern in Berlin. Katharina Kaiser vom Kunstamt Schöneberg hat eine neuartige und höchst erfolgreiche Ausstellung über die Vertreibung der Juden aus Berlin-Schöneberg organisiert. Soweit die Akten es gestatten, hat sie in der Ausstellung "Orte des Erinnerns" die Vertreibung von rund 15 000 Juden aus dem Bezirk Schöneberg rekonstruiert: die Namen und das Wirken einzelner jüdischer Familien, ihre Rolle in der Nachbarschaft, ihre Vertreibungsschicksale. Tränen der Wut und Verzweiflung seien beim Streit über die Konzeption der Ausstellung geflossen, erzählt sie. Die Historiker wollten für die Ausstellung mit den Mitteln der herkömmlichen "Schock-Pädagogik" werben: Fotos von Leichenbergen, Haarbergen, Schuhbergen. Eben von diesem, auf den Tod fixierten Geschichtsbild müsse man Abschied zu nehmen. Die Opfer müßten endlich als Individuen, als Menschen mit ihren Stärken und Schwächen in ihrem jeweiligen Alltag dargestellt werden, kurz als Nachbarn: Rechtsanwälte, Bäcker, Wissenschaftler, Bankiers, Kriminelle, Arbeiter, in ihrem jeweiligen Stadtviertel. Dies sei auch die wirksamste Methode, um bei den heutigen Jugendlichen Empathie zu erzeugen. In dieser Hinsicht sei die jetzige Generation viel "ehrlicher" als die vorangehende - sie sage sofort, wenn sie sich langweile oder angesprochen fühle.

"The Sins of the Grandfathers. How German Teen-Agers confront the Holocaust, and how they don't; in: The New York Times Magazine, 03.12.1975 (215)"