Todesmarsch durch Groß-Hehlen im April 1945

In Groß-Hehlen ermordeten Männer der Waffen-SS am 10. April 1945 KZ-Häftlinge, die auf dem Marsch vom Lager Kleinbodungen nach Belsen in dem Dorf gerade ihren letzten Zwischenstopp gemacht hatten. Diese Morde wurden im Lüneburger Belsenprozess im Herbst 1945 verhandelt. Vor gut 10 Jahren beschrieb Joachim Neander in seiner Untersuchung zur Endphase des KZ Mittelbau ausführlich dieses nationalsozialistische Endkriegsverbrechen. Trotzdem ist bisher kaum in die lokale Erinnerungspolitik eingeflossen, dass und wie Groß-Hehlen zum Schauplatz dieser Morde wurde.

In Kleinbodungen, einer kleinen Gemeinde im nordthüringischen Landkreis Nordhausen, bestand zwischen Oktober 1944 und April 1945 ein Außenlager des KZ Dora-Mittelbau. Durchschnittlich etwa 620 männliche KZ-Häftlinge waren in der lagereigenen Werkstatt damit beschäftigt, defekte A4-Raketen in ihre Einzelteile zu zerlegen, die dann teils für neu produzierte Raketen wieder verwendet wurden. Lagerleiter war durchgehend SS-Hauptscharführer Xaver Stärfel (alias Franz Stofel), sein Stellvertreter SS-Oberscharführer Wilhelm Dörr. Unter ihrer Leitung sowie weiterer 45 SS-Angehöriger wurden die Häftlinge am 5. April auf den Marsch nach Bergen-Belsen geschickt. Über Osterode, Seesen, Salzgitter, Rüningen und Ohof kamen die KZ-Häftlinge und ihre Bewacher am 10. April gegen Abend in Groß-Hehlen an.

Bereits zwischen Seesen und Salzgitter war es zu den ersten dokumentierten Morden gekommen. Der ehemalige Häftling Ernst Poppner sagte im Belsenprozess aus, dass Dörr drei Männer mit sich in eine Scheune genommen und zwei von ihnen in den Hinterkopf geschossen habe. Der dritte Mann sei geflohen, wobei aber weitere Schüsse gefallen seien.

Drei Männer seien schließlich in einem flachen Grab neben der Scheune verscharrt worden. (Phillips, 704) Ein anderer Überlebender erinnerte sich: „Wer unterwegs schlapp machte und nicht mehr in der Lage war, der Kolonne zu folgen, wurde einfach erschossen." (zit. bei Neander, 428) Der schon erwähnte Ernst Popper steuerte eine genaue Zeugenaussage zu dieser gängige Praxis der SS auf den so genannten Evakuierungsmärschen bei. (Vgl. Phillips, 704)

Gegen 18 Uhr hatte der Marsch am 10. April 1945 Groß Hehlen erreicht. Die Häftlinge wurden zu einer Scheune geführt, in der sie übernachten sollten. Einige Häftlinge begaben sich allerdings noch auf den Dorfplatz und fingen an zu musizieren. Die Wirtin des Gasthauses „Zur Linde“, Erika Ceconi, erinnerte sich im Belsen Prozess so: "There was a commotion already in the village, and when the concentration camp prisoners started to play music, of course the children gathered round and the commotion grew bigger." (Vgl. Phillips, 352)

Im Ort lagen schon eine Einheit der Wehrmacht und eine der Waffen-SS im Feldquartier. Der örtliche Militärbefehlshaber, der sein Hauptquartier im Dorfgasthof hatte, fühlte sich – so später die Vermutung des Chefanklägers im Belsen-Prozeß, Col. Backhouse - durch den Lärm der Kinder und die Musik derart gestört, dass er anordnete, der gesamte KZ-Transport habe sofort aus dem Dorf zu verschwinden. Nachdem Stärfel sich zunächst wenig geneigt zeigte, diesem Befehl nachzukommen, beauftragte der Ortskommandant einen der Waffen-SS-Offiziere, mit seinen Leuten für den unverzüglichen Aufbruch des KZ-Transports zu sorgen.
Als Angeklagter schilderte SS-Hauptscharführer Stärfel den weiteren Gang der Dinge so:

„Then the Kommandant gave an order to another S.S. officer, an Untersturmführer, to take his men, about 30, and see that the prisoners were moved. He came with his men towards the barn where my prisoners were seated, partly inside and partly outside, and shooting started at once. Then they took the prisoners away at the double [= im Eiltempo]. It was about 1900 hours and getting dark.
Where were the prisoners taken to? —
Their destination was unknown. I went again to the Kommandant and asked him for a truck, so could take the rations at least, but he refused. So I contacted the prisoners as quickly as possible about three kilometres from Gross Hehlen in a wood where they stopped. Blockältester Kunerez reported that four or five prisoners had been shot, partly because it was dark and they had tried to escape, and partly because they could not keep up with the pace. I asked him who did the shooting and he said the men of this Field Unit because they had no idea how to treat the prisoners, and probably thought they were not marching fast enough. My guards were not present at all during this period because they were already in their billets when the prisoners were marched off, and so were not ready. The transport stayed in the wood about an hour and a half.
Where did you go when you left? —
Accommodation was found at an old aerodrome which was a sort of P.O.W. [= Prisoners of War] camp for Russians, and we set off for Bergen-Belsen the following morning.” (Phillips, 326)

Die Waffen-SS trieb die KZ-Häftlinge also in schnellem Marsch aus Groß-Hehlen heraus Richtung Hustedt, wie Ortskundige leicht erkennen können – dabei wurden Häftlinge, die „flohen“ oder mit dem Tempo nicht mithalten konnten, durch die Männer der Waffen-SS erschossen.

Der ehemalige Häftling Stojan Trost erinnerte sich später so an die Szenerie: "Die neuen SS-Wachen [...] verfuhren noch ärger mit uns. Auf einmal begannen sie, uns wie eine Herde Schafe zu hetzen. Einer nach dem anderen rannten wir los. Aber wehe dem, der es wagte, aus dem Pferch der Sklaverei auszubrechen. Man erschoss ihn auf der Stelle. Plötzlich war uns alles zuviel geworden. Wir warfen zuerst die Decke weg, dann das Kochgeschirr, schließlich sogar den Löffel- kurzum alles, was uns irgendwie beim Laufen hindern konnte. Es gab nur ein Ziel: am Leben zu bleiben." (Vgl. bei Neander, 431)

Die ehemalige SS-Aufseherin Gertrud Neumann gab als Zeugin im Belsen-Prozess an, mit eigenen Augen "mindestens acht Tote" an der Straße liegend gesehen zu haben, die durch Genickschüsse ermordet worden waren. „Did you bother [= sich die Mühe machen] to stop a moment and see whether you could assist any of these people at all, or examine them to make sure they were really dead?” fragt sie der Militärstaatsanwalt. Ihre Antwort: “No. The sight of them with their brains smashed made us feel quite ill.” (Vgl. Phillips. 350f.)

Stärfel behauptete im Prozess, er und seine Leute seien dem aus dem Dorf getriebenen Häftlingstrupp erst in großem zeitlichen und räumlichen Abstand gefolgt. Der Ankläger befragte zu diesem Aspekt sehr nachdrücklich die SS-Wächterin Ilse Steinbusch. Sie bestätigte Stärfels Version, sagte aber auch aus, dass der SS-Mann etwa auf der Hälfe der Strecke schnellen Schrittes verschwunden sei. Im Übrigen hatte auch sie die Erschossenen am Straßenrand bemerkt: “During the journey I heard quite a few shots and saw about seven or eight bodies after we had left the last house in the village.” (Phillips, 353)

Die Toten müssen noch vor dem Einmarsch der Alliierten, der am 12. April erfolgte, am Straßenrand verscharrt worden sein. Denn acht Wochen später wurden die Leichen auf den Groß-Hehlener Friedhof umgebettet, wie Bürgermeister Heinrich Brammer im Belsen-Prozess berichtete:

“British troops arrived in the village on the 12th. Eight weeks later a commission arrived to enquire [= Untersuchungen anstellen] about the bodies which were found by the villagers about a kilometre away. The bodies, which had striped prisoners’ clothing and were wrapped in blankets, were disinterred and then buried in a churchyard in Gross Hehlen. I do not know how they came to die.” (Phillips, 480)

Der Todesmarsch von Kleinbodungen erreichte das KZ Bergen-Belsen am Nachmittag des 11. April. Stärfel übergab die Häftlinge der SS-Lagerverwaltung und dem Lagerältesten. Die Häftlinge kamen in den Block 90, wo sie am 15. April 1945 durch die Briten befreit wurden.

Von den SS-Wachmannschaften des Transports mussten sich Franz Stärfel (rechts oben) und sein Stellvertreter Wilhelm Dörr (rechts unten) sowie der SS-Mann George Kraft vom 17. September bis 17. November 1945 im Lüneburger Belsen-Prozess verantworten. Stärfel und Dörr wurden wegen Verbrechen gegen die Menschheit zum Tode verurteilt und am 13. Dezember 1945 in Hameln hingerichtet; Kraft wurde freigesprochen.

Interessant wäre, ob es Ermittlungen gegen die Einheit der in Groß-Hehlen liegenden Waffen-SS gegeben hat? Ein Prozess scheint nicht stattgefunden zu haben.

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Joachim Neander: Das Konzentrationslager Mittelbau in der Endphase der nationalsozialistischen Diktatur. - Clausthal-Zellerfeld 1997.
Raymond Phillips(Hg): Trial of Josef Kramer and forty-four others (The Belsen-Trial). War Crimes Trials Series Vol. II, London, Edinburgh, Glasgow 1949. [Dieses Buch gibt es mittlerweile im Internet unter: http://www.worldcourts.com/imt/eng/decisions/1945.11.17_United_Kingdom_v_Kramer.pdf

Aus: revista. linke zeitung für politik und kultur in celle, Nr. 48, April/Mai 2010, S. 20-21..