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- NEUE STUDIE ZUR CELLER SPINNHÜTTE
Ein Musterbetrieb im Nationalsozialismus
Die »Spinnhütte« entwickelte sich in den 12 Jahren des Nationalsozialismus zum bedeutendsten Celler Industriebetrieb. Im Zuge der Aufrüstung und mithilfe des Luftfahrtministeriums wurde der Betrieb zum wichtigsten Hersteller von Fallschirmseide. Als einziges Unternehmen vor Ort erhielt es die beiden höchsten Auszeichnungen „Nationalsozialsozialistischer Musterbetrieb“ und „Kriegsmusterbetrieb“. Christopher Manuel Galler hat sich in seiner im November 2012 als Buch veröffentlichten Masterarbeit neben der Frage der Einbettung in die NS-Rüstungsproduktion intensiv auch mit dem »sozialen Raum« befasst, den ein NS-Musterbetrieb für die Belegschaft herstellte.
Galler entwickelt anschaulich die Vor- und Frühgeschichte der »Spinnhütte« und die spezifischen Gründe, u.a. die fördernde Unterstützung durch die Stadt, für die Ansiedlung des Unternehmens in Celle. Dass die »Spinnhütte« ihr Überleben und ihre Expansion ab 1933 ausschließlich der wehrwirtschaftlichen Bedeutung ihrer Produkte zu verdanken hatte, wird schlüssig belegt.
Unter Einbeziehung vieler Aspekte beschreibt Galler die Entwicklung des „betrieblichen Lebens“: Betriebsordnung, Werkzeitschrift, Freizeitgestaltung und soziale Fürsorge, Betriebsveranstaltungen- und Appelle, schließlich auch die Bedeutung der »Webersiedlung« für Belegschaftsangehörige. Was Galler aus den vorliegenden Quellen zusammenträgt, kann in gewisser Weise als jenes »Faszinosum« erscheinen, von dem Bundestagspräsident Jenninger 1988 sprach (und was ihn den »Job« kostete): Die »Spinnhütte« bot als »Musterbetrieb« vieles von dem, was sich Kommunist_innen in der Weimarer Republik von einem Industriebetrieb erträumt hätten. Nur ein Beispiel, die so genannten „Werkspausenkonzerte“:
„Dokumentiert ist, dass diese in den Sommermonaten teilweise unter freiem Himmel stattfanden. In diesem Fall spielte die eigene Werkskapelle Märsche, Walzer und »Charakterstücke«, während den Beschäftigten Tee und Kaffee zur Verfügung gestellt wurde und einige die Gelegenheit zum Tanzen nutzten.“ (S. 78)
Im „Werkskino“ wurden Filme gezeigt, es gab eine werkseigene Bücherei, turnusmäßig wurden 5 % der Belegschaft in Erholungsheime der DAF verschickt, wofür es Sonderurlaub gab. Der Betriebssport erhielt einen hohen Stellenwert; es gab eigene Sportanlagen; die Teilnahme an Sportkursen wurde aus der Unternehmenskasse erstattet. Hier findet sich eine Wirklichkeit, die in kommunistischen Zeitungen der 1920er Jahre die Bezeichnung »Arbeiterparadies« hervorgerufen hätte.
Galler begegnet diesen Alltagsbeschreibungen mit der These, hinter allem wirke die Absicht zur Implementierung nationalsozialistischer Ideologie und eine Militarisierung („Oszillation zwischen Urlaub und Kasernenhof“) der Belegschaft. Das ist sicher richtig. Aber eigentlich gilt es hier, weitere Fragen zu entwickeln. Zunächst einmal gestaltet sich das Verhältnis von Kapital und Arbeit im Kern über die Löhne. Hierzu gibt es leider bei Galler nichts; also: Wie war die Entlohnung bei der »Spinnhütte« im Vergleich zu anderen Branchen und auch im Vergleich zu Löhnen vor der Weltwirtschaftskrise? In welche Formen gestaltete sich so etwas wie innerbetrieblichen »Mitbestimmung/-gestaltung« im Rahmen des Systems der Deutschen Arbeitsfront im Alltag eines »Musterbetriebs«? Die »Spinnhütte« war tendenziell ein Frauenbetrieb, der erst nach 1933 zu einem Industriebetrieb wuchs – welche Rolle spielte dies für die anscheinend reibungslose Durchsetzung der Volksgemeinschaftsideologie im Betrieb?
Leider gibt es kaum Zeitzeug_innen-Berichte, und es dürfte inzwischen fast unmöglich sein, derartige »Quellen« noch zu erschließen. In der lokalen Erinnerungskultur spielte die »Spinnhütte« erstaunlicherweise kaum eine Rolle. Das überrascht, hat aber wahrscheinlich genau damit zu tun, dass der Betriebsalltag sich im Erleben der Beschäftigten vielleicht sogar positiv abhob von den Erfahrungen der 1950er und 1960er Jahre, gleichzeitig aber klar geworden war, dass es sich um einen aufgenordeten NS-Rüstungsbetrieb gehandelt hatte.
In gewisser Weise spiegelt sich dies auch in jenem Kapitel, in dem sich Galler mit der „Entnazifizierung“ befasst. Er fängt über die zum Teil eher persönlichen Scharmützel einzelner entlassener ehemaliger Betriebsangehöriger mit der nicht entnazifizierten Firmenleitung die Probleme und Fragen der Nachkriegszeit ein. Aber wie schon die Zeitgenossen tut sich der Autor schwer mit der Bewertung des Handelns der wirtschaftlichen »Eliten«. Warum eigentlich? Ein Generaldirektor und seine Leitung, die wie in der »Spinnhütte« ab 1941/42 das rassistisches Zwangsarbeitssystem nutzen, sollten nach dem 8. Mai 1945 nicht mehr auf Chefsesseln sitzen, sondern einige Zeit im Knast verbringen, oder? Gallers Wertung bleibt allgemein: „Gerade der Umstand, dass es gelungen war, menschlich wie technisch fähige Führungspersönlichkeiten für den Nationalsozialismus einzunehmen, dürfte einer der entscheidenden Faktoren gewesen sein, der das NS-Regime für weite Kreise hoffähig machte. Denn alle Menschen in verantwortlichen Positionen schwammen eben nicht nur mit der Strömung, sondern beschleunigten sie dabei.“ (S. 134)
Fazit: Die Untersuchung über die »Spinnhütte« öffnet den Blick auf den lokal wohl bedeutendsten NS-Betrieb. Neben der Darstellung der wirtschafts- und rüstungspolitischen Zusammenhänge führt Christopher Manuel Galler über viele bisher ungenutzte Quellen ein in den Alltag eines NS-Musterbetriebs. Ein lokalgeschichtlich wichtiges Buch – die vorher aufgeworfenen Fragen sind insoweit nicht als Kritik am Buch zu lesen, sondern sollen eher darüber hinausweisen.
Galler, Christopher Manuel: Die Spinnhütte Celle im Nationalsozialismus. Arbeit und Rüstungswirtschaft in einem Musterbetrieb von 1934 bis 1945, Bielefeld 2012, 148 S., ISBN: 978-3-89534-944-7, Preis € 14,90
Aus: revista. linke zeitung für politik und kultur in celle, Nr. 63, Febr./März 2013, S. 28.