Das unbehelligte Leben eines Massenmörders

Eichmann vor Jerusalem

Adolf Eichmann – SS-Obersturmbannführer, Leiter des Referats »Judenangelegenheiten« im Reichssicherheitshauptamt der SS, „Zentraler Organisator der Deportation von über 3 Mio. Juden aus dem NS-Machtbereich und der »Endlösung«. 1946 Flucht aus US-Gefangenschaft nach Argentinien, von Geheimagenten nach Israel entführt, dort Prozeß (2.4.-11.12.1961), Verurteilung zum Tode“, so heißt es in der Kurzbiographie in der »Enzyklopädie des Nationalsozialismus«.

Über Eichmann ist viel geschrieben worden, die Historikerin Bettina Stangneth hat nun aber eine über 500 Seiten starke Studie vorgelegt, die sich mit Eichmanns »Nachkriegsgeschichte« beschäftigt. Dafür standen ihr auch bisher nicht ausgewertete Materialien zur Verfügung. Ein Teil der Geschichte ist Eichmanns Untertauchen in Deutschland bevor er nach Argentinien entkommen konnte, und dies ist auch Teil der Celler Lokalgeschichte: Eichmann lebte einige Jahre in Altensalzkoth. Diese Erkenntnis ist nicht neu, erste Interviews machten Journalisten in Altensalzkoth bereits 1960 und eine Internetsuche mit den Begriffen »Eichmann Altensalzkoth« führt u.a. zu einer Reihe von Zeitungsartikeln. Die Inhalte gleichen sich, wenige Zeilen zu Eichmanns Zeit im Landkreis Celle: Mit gefälschten Papieren kam Eichmann 1946 als »Otto Heninger« nach Altensalzkoth, arbeitete zunächst als Waldarbeiter, lebte auch im Wald, wurde dann 1948 Hühnerzüchter und zog in den Ort Altensalzkoth bis er sich 1950 auf den Weg nach Argentinien machte. Ausführlichere Artikel, die auch Zeitzeugen aus Altensalzkoth zu Wort kommen lassen, zeigen: Keiner wusste, wer da im Ort war, keiner konnte oder wollte es sich im Nachhinein vorstellen. Zu diesem Ergebnis kommt nun auch Bettina Stangneth: „Dass jemand gewusst hat, wer Otto Heninger wirklich war, ist unwahrscheinlich. Die kleine Dorfgemeinschaft ließ ihn in ihr Leben, vermietete ihm Zimmer und Wiesen, fuhr für ihn die Hühner zum Markt, kaufte seine Eier und respektierte seine zurückhaltende Art. In dieser Zeit kurz nach dem Krieg mochte niemand gern Fragen und stellte darum anderen auch keine.“ Eichmann selbst schrieb über seine Zeit im Landkreis Celle u.a. dies: „Das Leben in diesem wunderschönen Heideland lief seine ruhigen Bahnen weiter. Sonntags fuhr ich mit dem Fahrrad ins Dorfgasthaus in die Nähe von Celle […] Manchmal mußte ich grinsen, wenn der Gastwirt mir von dem Geschreibe der Lokalzeitungen erzählte. ›Wahrscheinlich ist das alles erlogen und erdichtet‹, pflegte er zu sagen, – und mich machte das sehr froh und zufrieden“. Er äußerte sich aber auch abfällig über die „einfachen Leute“, und Stangneth teilt die Auffassung Hannah Arendts, dass sich Eichmann in der Heide „tödlich gelangweilt“ haben musste. Die »Abreise« aus Altensalzkoth war keine hektische Flucht, er beglich alle Verbindlichkeiten und verabschiedete sich im Dorf. Die finanziellen Mittel, die ihm das Entkommen nach Südamerika ermöglichten, stammten aus seiner Hühnerzucht. Eichmanns »Celle-Episode« endete wie sie begonnen hatte: unspektakulär.

Eichmanns Aufenthalt in Altensalzkoth ist nur ein kleiner Teil der Geschichte des Organisators des Holocaust. Und auch wenn diese Geschichte durchaus spektakulär wirkt, besonders wegen der Entführung Eichmanns von Argentinien nach Israel und dem Aufsehen erregenden Prozess, erscheint sie doch auch exemplarisch: Sie zeigt den Umgang Nachkriegsdeutschlands und der jungen Bundesrepublik mit den Nazi-Tätern, das Funktionieren alter Seilschaften und dass auch Jahrzehnte nach dem Krieg die Verfolgung der Täter in Deutschland noch nicht selbstverständlich und von erheblichen Schwierigkeiten und Widerständen geprägt war.

Bettina Stangneth: Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders. 2. Auflage. Zürich, Hamburg 2011. ISBN 978-3-7160-2669-4, 39,90€.

Aus: revista. linke zeitung für politik und kultur in celle, Nr. 55, Juli/Aug. 2011, S. 28.

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