Celle. Geschichten aus einer deutschen Stadt

Um ehrlich zu sein: es gibt viele Bücher über Celle - Fotobücher, die der Verkehrsverein dem Fremden ans Herz legt, ebenso wie Geschichtsbücher mit geschönter Stadtgeschichte für den bildungsbeflissenen Bürger. Und die «Cellesche Zeitung» verarbeitet die Gegenwart der Heimat für diejenigen, denen die BILD-Zeitung zu weltläufig ist. Trotzdem ein neues Celle-Buch? Ist der Markt, ist der Celler Bürger nicht gesättigt? Wie verhielt sich diese Berufselite im und gegenüber dem Nationalsozialismus? Welchen Repressionen und Disziplinierungen war sie ausgesetzt? Wie erklärt sich andererseits die Identifizierung großer Teile der Anwaltschaft mit dem Regime? Welche Selbstbild ergibt sich aus den Entnazifizierungsakten und den Wiederzulassungsverfahren?

Auch wenn ich in Celle geboren bin, darf ich es aussprechen: Celle ist eine der interessantesten Städte der Republik. Nur gerade das, was das Interesse an Celle zu wecken vermag, kann man in keinem Buch nachlesen, man muß selbst «hinter den Fassaden» nachsehen. Unser Buch kann niemandem diese Anstrengung abnehmen, aber es soll Mut machen, den eigenen Versuch zu wagen und kann vielleicht ein Wegweiser für eigene Forschungen sein.
Warum ist Celle so interessant? Celle ist eine historische, auch im letzten Krieg nicht zerstörte Stadt. Prunkstück ist das im Barockstil erbaute Herzogsschloß mit dem ältesten, noch heute bespielten Fürstentheater - so sagen jedenfalls die Celler. Unser durchlauchtiger jetziger Landesfürst läßt es für seine Repräsentation ausbauen, sei es, daß die fürstliche Tradition, sei es, daß die Theateratmosphäre, sei es auch, daß die Hoffnung auf eine fürstlich-theatralische Repräsentation ihn anzieht.
Vom Schloß blickt man auf die «Stechbahn», auf der einst Ritter im Turnier ihre Kräfte maßen. An den ebenfalls im Barockstil vom Hofbeamten errichteten Bürgerhäusern in der Trift vorbei -- eines dieser Häuser (Nr. 21) beherbergte die Kreisleitung der NSDAP - gelangt man zum Celler Zuchthaus, dem nach dem in Amsterdam zweitältesten Europas. Die Gegenwart hat sich dieses Bauwerks bemächtigt. Niedersachsens Justizminister - in ihrem Unverständnis für Geschichte und Kunst quer durch alle Altparteien eine große Koalition - haben das historische Ambiente zerstört, für Übersicht und freies Schußfeld gesorgt sowie einen Hochsicherheitstrakt installiert.
Weil Celle von den Bomben der Engländer und Amerikaner weitgehend verschont blieb - die große Allerbrücke wurde von der deutschen Wehrmacht gesprengt - strömten Flüchtlinge aus dem Osten 1945 in großer Zahl in die Stadt, so daß sie wie nur wenige übervölkert wurde. Der Bevölkerungsdruck führte nach der Währungsreform 1948 zu einer beispiellosen Bautätigkeit in den Außenbezirken und der Ansiedlung einer Vielzahl mittelständischer Betriebe, während alte, stadtnahe Betriebe - Beispiel: die Trüllersche Keksfabrik - siechten. Dieser plötzliche Ausbau des Umfeldes vollzog sich ungeplant nach den Gesetzen der freien Marktwirtschaft, ohne Rücksicht auf die historische Stadt, so daß sich zwangsläufig bis heute nicht gelöste Verkehrsprobleme einstellten.
Die Celler Umgebung gäbe genug Stoff für ein eigenes Buch her. Ihre stille landschaftliche Schönheit ist von dem aus Ostpreußen nach Hannover zugereisten Heimatdichter Hermann Löns besungen worden. Sein eher unbürgerliches Verhältnis zur Weiblichkeit hat uns nicht nur zarte, vielfach vertonte Lyrik beschert, sondern auch den Cellern anregenden Gesprächsstoff geboten. Eine seiner letzten Freundinnen - die Journalistin Hanna Fueß - war bis weit nach dem Krieg neben ihrem Chef «Ernstchen" Pfingsten die «Cellesche Zeitung» schlechthin. Im Ausland ist Celles Umgebung zum Teil bekannter als die Stadt selbst. Die Hermannsburger Mission war vor dem Krieg in Afrika so rührig, daß man dort die Lage der Stadt vielfach mit «Celle bei Hermannsburg» beschreiben mußte. Nach dem Kriege hat sich dies zum Bösen gewandelt. Heute ist die Lage der Stadt im Ausland leichter mit «Celle bei Belsen» zu umschreiben. Dabei war Belsen kein eigentliches Konzentrationslager, sondern Teil des Truppenübungsplatzes Bergen-Belsen, der heute von der NATO weiterbetrieben wird, wenn auch jetzt der Name «Belsen» durch den Ortsnamen «Hohne» ersetzt ist.
Celle war immer eine vom Bürgertum geprägte Stadt. Als bürgerliche Stadt steht sie gewiß nicht allein. Es gibt aber kaum eine zweite Stadt, in der die Juristen - bis zum Kriegsende fast vollständig und abgeschwächt noch heute - so sehr den Ton angeben. So ist der Celler Siemensplatz natürlich nicht nach dem bekannten Unternehmer, sondern nach dem Celler Amtsrichter gleichen Namens benannt. Sonst aber standen die Amtsrichter ihres geringeren Ranges wegen im zweiten Glied.
Juristen, das heißt in Celle: die Richter des Oberlandesgerichts und die ihnen zugeordneten Anwälte. Das in den Mauern des Oberlandesgerichts gepflegte Denken in Rangunterschieden - vom Hilfsrichter bis zum Oberlandesgerichtspräsidenten gibt es an diesem Gericht unter den Richtern fünf verschiedene Ränge mit zusätzlich feinen informellen Rangunterschieden dazwischen - wandte sich auch nach außen. Nicht nur, daß dem Kränzchen der Juristendamen wie selbstverständlich die Frau des Oberlandesgerichtspräsidenten präsidierte und die Frauen nach dem Dienstrang ihrer Männer plaziert wurden, daß die am Oberlandesgericht zugelassenen Rechtsanwälte, die ihre Sonderstellung bis heute gegen die Provinzanwälte behaupten konnten, sich diesen gegenüber erhaben dünkten: eigentlich wurde jedermann in Gedanken an den Abstufungen der Justizhierarchie gemessen.
Zwischen 1934 und 1945 vermochten nur die dank der con den Nazis betriebenen Nachrüstung und wegen des nahen Truppenübungsplatzes zahlreichen Offiziere einige Bedeutung zu erlangen. Ihre häufige Versetzung verhinderte jedoch, daß sie im Bürgertum Fuß fassen konnten. Ihr Kontakt reichte aber aus, um bekannt werden zu lassen, daß in der Seeckt-Kaserne der Giftgaskrieg vorbereitet wurde. Der Kasinoball war nach dem Juristenball jeweils das zweite Ereignis der Saison.
Fabrikanten und Geschäftsleute waren dagegen nur Gesprächsstoff, nicht Gesprächspartner.
In dieser Welt vermochte auch der Nationalsozialismus nur schwer Fuß zu fassen. Der Celler Geschmack nahm Anstoß an den schlechten Manieren dieser grobschlächtigen Kerle. Es ist sicherlich kein Zufall, daß die ersten beiden Kreisleiter der NSDAP der Justiz zum Opfer fielen, in Strafverfahren verwickelt wurden und im Knast verschwanden. Erst der dritte konnte sich dank zurückhaltender Amtsführung halten. Es ist sicherlich auch kein Zufall, daß in Celle ein Rechtsanwalt als SA-Sturmführer nicht nur folgenlos, sondern heimlich bewundert am Abend der «Reichskristallnacht» erklären konnte: «Mein Sturm tritt nicht an! » ... und er trat nicht an.
Es soll aber nicht verschwiegen werden, daß den Nazis dennoch ein begrenzter Einbruch auch in die Justiz gelang. Er konnte jedoch nur auf dem Umweg über das Justizministerium in Berlin und bevorzugte Beförderung von Nazis erzielt werden. Hierarchien sind am leichtesten von oben zu knacken.
Nach dem Krieg geriet die alte Ordnung durcheinander. Die zahlreichen Flüchtlinge paßten nicht mehr in die alten Schubladen. Die schnell wachsende, jetzt wieder schrumpfende Zahl mittelständischer Unternehmen, ihre Inhaber und ihre Arbeitnehmer und die Gewerkschaften bekamen ein eigenes Gewicht.
Die braune Zeit von Celle beginnt erst 1945. Der Satz mag übertrieben sein, und man wird ihn auch relativ zur Umwelt sehen müssen. Nur: die Demokratie hat in Celle noch nie Kraft aus einem eigenen kräftigen Wurzelballen schöpfen können, der den Baum auch im Sturm hielt und ihm Widerstandsfähigkeit gegen schleichende politische Umweltgifte gegeben hätte. Für nicht wenige bot das autoritäre Denken der Vergangenheit einen Fluchtweg vor den Anforderungen einer notwendig mit öffentlichen Auseinandersetzungen verbundenen demokratischen Gegenwart. Die alten Hierarchien ebenso wie viele Unternehmer fühlten sich in Frage gestellt, wie sie es bis dahin nicht gekannt hatten. Wichtiger waren jedoch zwei Dinge: Die alten Eliten waren eben doch mindestens formal zum nicht geringen Teil kompromittiert und mußten sich neu orientieren - ein schmerzhafter Prozeß. Was lag näher, als daß sie ihr Verhalten in der Vergangenheit und damit auch diese rechtfertigten? In einer «Beamtenstadt» aber wird dies leicht zum massenhaften Phänomen. In der Justiz wurde dies besonders deutlich. Celle war nach 1933 auch Sitz des nicht nur für den Celler Oberlandesgerichtsbezirk, sondern für ganz Preußen zuständigen, von den Nazis gegründeten Landeserbhofgerichts geworden, dessen Richter auf deutschem Boden ihre braunen Furchen zogen. Aus dem Osten waren 1945 und später massenweise Nazirichter zugewandert, die in ihrer alten Heimat mit Recht keine Chance sahen. Deshalb handelte der Celler Oberlandesgerichtspräsident Freiherr von Hodenberg - selbst kein Nazi, sondern alter «Welfe» - mit der englischen Besatzungsmacht die «Huckepack»regel aus, die es ihm erlaubte, auf jeden unbelasteten Richter einen belasteten einzustellen, eine Regel, die er selbst immer noch als einengend empfand, weil die Zahl der belasteten Richter zu groß war. Als «unbelastet» galten auch blutbefleckte Kriegsrichter, weil sie einer Bestimmung aus der Weimarer Zeit folgend nicht Mitglied einer politischen Partei, und damit auch nicht der NSDAP, hatten sein dürfen. Zum anderen hatten die Celler allen Grund, sich dagegen zu wehren, mit den Greueln von Belsen identifiziert zu werden. Was lag näher, als sie abzuschwächen.
Man mag es bezeichnend finden, daß die CDU als nunmehr christliche Politiker Männer erfolgreich zur Wahl stellen konnte, die während des Zweiten Weltkrieges jüdische Vermögen in Frankreich «arisiert» oder der SS angehört hatten.
Von alldem kann man in den herkömmlichen Celle-Büchern nur wenig finden. In den schönen Fotobüchern kann man natürlich das Schloß bei Sonnenaufgang und angestrahlt in der Nacht bewundern. Der Oberbürgermeister strahlt dekoriert mit Amtskette wie Albrecht. Doch wer zeigt sein Jugendbild als stolzen SS-Mann? Auch den Hochsicherheitstrakt des Zuchthauses und die Stelle des Güterbahnhofs, an der KZHäftlinge in großer Zahl erschossen worden sind, wird man vergeblich suchen.
Doch stellt sich dem Vorhaben eines «anderen» Celle-Buches die Frage entgegen, ob man im «Schmutz» wühlen solle. Haben wir im «Schmutz» gewühlt? Gewiß: Wir haben uns bemüht, auch die Schattenseiten des Celler Lebens zu zeigen. Doch gehört zu der vom offiziellen Licht angestrahlten Seite der Medaille nicht auch die Kehrseite im Schatten? Müssen wir nicht umgekehrt gegen die, die nur die helle Seite / [334] zeigen, den Vorwurf der Unwahrhaftigkeit erheben? Wenn man hei dem Bemühen um alternative Geschichtsschreibung ehrlich gegen sich selbst ist, muß man allerdings die Gefahr sehen, daß die Freude über die Entdeckung bisher geheimgehaltener Schattenseiten dazu verführen kann, nur die Schatten zu zeigen und sich damit ebenfalls dem berechtigten Vorwurf der Verfälschung auszusetzen. Ich will keinesfalls den verlogenen Begriff der «Ausgewogenheit» kultivieren. Nur: zur Wahrheit gehören Licht und Schatten.
Doch ob Licht oder Schatten: welchen Wert hat die Beschäftigung mit Celler Geschichte?
Zunächst befriedigt sie sicherlich die Neugierde der Celler Bürger und gerade derer, die sie vor 1945 nicht selbst erlebt haben. Es mag jeder für sich selbst entscheiden, ob er diesem Interesse seine Zeit und Kraft opfern will. Ich bin egoistisch genug, um hier deutlich «nein» zu sagen.
Mein Eigeninteresse wird schon größer bei der Suche nach den Kräften, die mich in meiner Jugend geprägt haben. Je älter ich werde, desto deutlicher wird mir, daß ich den Eindrücken, die ich in der Jugend empfangen habe, nicht entrinnen kann. Ich gehöre zu den Menschen, die in ihrer Jugend einer scheinbar totalen staatlichen Erziehung unterworfen und einer wegen ihrer Wirksamkeit hochgelobten Propaganda ausgesetzt waren, ohne aus eigenem Erleben mit der Weimarer Zeit vergleichen zu können. Doch das Ergebnis war von den damaligen Intentionen her gesehen sehr negativ. War dies das Verdienst meiner Eltern? Sie standen den Nazis entschieden ablehnend gegenüber und vermittelten mir stetig das Wissen von den Verbrechen des Regimes. Ich £rage mich, was aus mir geworden wäre; wenn ich «Nazis,> als Eltern gehabt hätte. Ich verdanke der dem eigenen Gewissen mehr als dem eigenen Vorteil verpflichteten Haltung meiner Eltern mehr, als mir bewußt ist. Nicht gering ist sicherlich auch der Anteil meiner Lehrer am Gymnasium Ernestinum zu veranschlagen, die die Werte unserer Kultur vermittelten, fast als ob es keine Nazis gäbe. Unvergessen mein Griechischlehrer Rudtke - ein Freimaurer -, der mitten im Krieg Sophokles' «Antigone» - den Satz «Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich geboren» habe ich bis heute nicht vergessen - lesen ließ, oder der Deutschlehrer Dr. Alpers, der uns Heine lesen ließ und sich über die Bürger lustig machte, die vorgaben, keine Heine-Werke im Bücherschrank zu haben. Den größten Anteil aber haben sicherlich die Nazis selbst mit ihrem abstoßenden Gehabe, ihren erkennbaren Verbrechen, vielleicht auch ein benachbarter Oberlandesgerichtsrat, der seinen starken Leib in die braune Uniform eines Ortsgruppenleiters zwängte, in der vagen Hoffnung, zum Senatspräsidenten befördert zu werden. Oder vielleicht auch der Direktor des meinem Elternhaus gegenüber liegenden Zuchthauses Marloh, der einst ein berüchtigter Freikorpsmörder war und zu Anfang der Weimarer Zeit in einem skandalösen Prozeß freigesprochen worden war und jetzt über verelendete, bejammernswerte Zuchthausgefangene herrschte, die ich als Kind fast täglich zu Gesicht bekam. Es war jener Marloh, an den sich die Justiz nach dem Krieg nicht mehr erinnerte und von dem bei den Recherchen für das Celle-Buch der Präsident des Strafvollzugsamtes in Celle angab, nicht zu wissen, wer dies gewesen sei. Die Akten, die Personalakten dieses Herrn waren weg.
Wenn ich versuche, für die Gründe meiner Ablehnung der Nazis meistens Verachtung, manchmal Haß - einen übergeordneten Gesichtspunkt zu finden, so möchte ich ihn als ein früh entwickeltes geschichtliches Bewußtsein benennen. Ein junger Mensch, für den die Geschichte nicht mit den «Helden und Verrätern» - so der Titel des Geschichtsbuchs in der Sexta des Gymnasiums der Naziwelt, sondern in Athen und Rom beginnt, kann über den Anspruch des «Tausendjährigen Reiches» und die in braunen Uniformen marschierenden spießbürgerlichen Gestalten, die ihm gerecht zu werden vorgaben, nur abschätzig denken. Ich will aber auch nicht verhehlen, daß die lange Geschichte meiner eigenen Familie, an der gemessen die Nazis nur Eintagsfliegen waren, Sicherheit gab, wenn sie auch - dies muß hinzugefügt werden - die Gefahr elitären Hochmuts in sich birgt.
Aber zurück zum Celle-Buch «Hinter den Fassaden»: Der Reiz der Arbeit an dem Buch - hoffentlich auch des Buches - lag darin, daß Herausgeber und Autoren Neuland betreten haben. Schreibt man die Geschichte eines begrenzten Raums, so ist mit Händen zu greifen, wie große und kleine Politik miteinander verzahnt sind, wie Politik, soziale Entwicklung, Wirtschaft, Kunst und Bauwesen ineinandergreifen und das eine nicht ohne das andere dargestellt werden kann, wenn man nicht nur Teile eines Puzzles in der Hand halten will. Der Versuch, dieses Geflecht auch in der Heimatgeschichte darzustellen und durch die Schilderung vieler auch persönlich gefärbter Einzelheiten glaubhaft zu machen, ist neu. Das Beackern dieses Feldes ist die große Chance des Amateurs. An den Grenzen dieses Feldes liegen aber auch wohl seine Grenzen. Auf dem Gebiet der großen Geschichte kommt er wohl nur mit einer Spezialisierung auf einen Aspekt weiter.

Hinter den Fassaden. Geschichten aus einer deutschen Stadt, herausgegeben von Werner Holtfort, Norbert Kandel, Wilfried Köppen, Ulrich Vultejus, Göttingen 1982, Steidl Verlag / [336]