„Bitte nicht so blutig“ /  Nachdem die BILD den im Oktober in Celle gestorbenen ehemaligen Adjutanten des Führers, Fritz Darges, mit zwei eher abfällig, sarkastischen Artikeln in die Walhall verabschiedet hatte, konnte auch die CZ nicht umhin, sich diesem seit 1948 in unserem Städtchen lebenden „Promi“ zu widmen. Heraus kam eine mehrteilige Serie, die einiges über den Hitler-Fan und seine Frau enthüllte – ebenso aber wurde eine gehörige Portion banalen Geschichtsmülls aufgehäuft. Wir sprachen über Inhalte und Wirkung mit Reinhard Rohde, der sich seit langem mit der Celler NS-Geschichte und Erinnerungskultur beschäftigt.

Die Cellesche Zeitung hat mit ihrer Serie zu der Nazi-Vergangenheit von Fritz Darges und seiner Frau Helene Darges-Sonnemann für ein vorweihnachtliches Stadtgespräch gesorgt. Du hattest vor einigen Monaten bei uns ja mal die Beschäftigung mit den Tätern angeregt. Löst die CZ das mit diesen Artikeln ein?

Ich hatte mich dabei auf Adorno bezogen. Der hatte eingefordert, die Wurzeln des Verbrechens nicht in den Opfern, sondern in den Verfolgern zu suchen, d.h. sich mit den Umständen der Taten und mit den Motiven der Täter zu beschäftigten. Das, so Adornos Auffassung, könne ein Beitrag im Sinne eines „Nie Wieder“ sein. Weil: Das Wiederholungsrisiko liegt ja eben nicht auf der Seite der Opfer, sondern auf der der Täter und Zuschauer. Aber zu der Frage nach den Umständen der Taten von Darges und Sonnemann gab es in der CZ genauso wenig zu lesen, wie zu deren Motiven.

Also keine „Erziehung nach Auschwitz“, was die Lokalzeitung da betrieb?

Nein. Das war, ich sage es mal zugespitzt: Der Führerbunker als boulvardeskes Spektakel. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Überlebende oder Angehörige von Opfern es witzig finden, wenn berichtet wird, dass Darges die Sitzungen mit seiner Fußpflegerin immer mit dem Satz "Bitte nicht so blutig" eingeleitet habe.

Um was geht es dann, wenn nicht um „Aufklärung“?

 Auflage. – Wie ihr eingangs gesagt habt: Es geht darum, „Stadtgespräche“ zu inszenieren – früher nannte man das „Lufthoheit über den Stammtischen“. Und an diesem „Stadtgespräch“ kann man eben nur mit Abonnement teilhaben.

Gab es nicht trotzdem einige neue Aspekte. Uns war nicht alles bekannt, worüber berichtet wurde.

Ja – auch. Dass eine Kindermörderin Chefärztin im AKH-Kinderhospital werden konnte, hat einige Brisanz. Aber in mehrfacher Hinsicht: 1960 und 1961 berichtete DER SPIEGEL über eine Sitzung der Hamburger Ärztekammer. Dabei ging es darum, ob jenen Ärztinnen und Ärzten, die in Rothenburgsort das NS-Euthanasieprogramm an Kindern umgesetzt, also – Klartext – mindestens 56 Kinder ermordet hatten, die Approbation entzogen werden sollte. In jeweils einer Fußnote dieser Artikel wird Helene Sonnemann als Angeschuldigte genannt. – In einer schon immer tratschigen Stadt wie Celle wird das spätestens dann ein Thema gewesen sein. Aber eben damals nicht für die Cellesche Zeitung. Und es wäre tatsächlich jetzt eine Aufgabe des AKH, die Akten zu Helene Sonnemann offenzulegen. Dann würden wir sehen können, ob und wie die gesellschaftliche Elite – denn die sitzt mit ihren Vertretern in den Aufsichtsgremien des AKH – mit diesem Thema umgegangen ist. Und nebenbei: Auch SPD via Rat oder Kreistag und Gewerkschaften via Betriebsrat hätten damals aktiv werden können.

Warum ist Helene Sonnemann in de aktuelleren regionalgeschichtlichen Forschung kein Thema gewesen?

Da gibt es eine Art „time-lag“. Als ich zum Beispiel begann, mich mit dem Feld „NS und Celle“ zu beschäftigen, war Sonnemann längst in Pension – also keine mir bekannte Person des öffentlichen Lebens. Und so stolpert man nicht über den Namen, der ja durchaus z.B. bei Ernst Klee „Deutsche Medizin im Dritten Reich“ auftaucht.

Was meinst du, warum vorher nichts an die Öffentlichkeit kam?

Die Mörder waren – wie es im Filmtitel von Wolfgang Staudte hieß – „... unter uns“. Ein persönliches Beispiel: Ein Onkel von mir lebte mit Familie in Hannover. Bei ein, zwei Besuchen in den 1960ern war die Stimmung spürbar gedrückt. Den Grund erfuhr ich viel später: Er war bei der Waffen-SS gewesen und es lief ein Ermittlungsverfahren gegen ihn. Der war damals „... unter uns“. Und ich bin mir sicher, dass nicht das die Belastung war, sondern der Umstand, dass er, konfrontiert mit seiner NS-Vergangenheit, um seine ruhigen Lebensumstände fürchtete. Und dann war man in der Familie glücklich, als sich alles im Sande verlief. Und um zu Darges zurückzukommen: Mein Onkel war ein freundlicher, runder Mann, Bahnbeamter im mittleren Dienst, der zudem gern Angeln ging.

Genau. Darges wird ja gewissermaßen als „Aristokrat“ beschrieben. Lass uns mal in die Artikel schauen: „Er war ein Gourmet und ausgezeichneter Weinkenner.“ „Er hat sich charakterlich gut verhalten und allgemein Anerkennung im Betrieb gefunden.“ „Er war ein ganz toller, sehr korrekter, ansprechender Mensch, der auch sehr freundlich war.“ Usw. usw.

Ja, ist das nicht merkwürdig, dass man die Männer der SS nach 1945 nur noch an der am linken Oberarm eintätowierten Blutgruppe erkennen konnte? Was später – nebenbei gesagt – den Zivildienstleistenden in Altenheimen immerhin die Gelegenheit gab, diese freundlichen alten Herren etwas unfreundlicher zu behandeln. – Die CZ-Zeitzeugen gehen ja sogar noch einen Schritt weiter, indem sie – zumindest zwischen den Zeilen – unterstellen, die „imposante Erscheinung“ von Darges habe ihren Grund in seiner SS-Vergangenheit und Nähe zu Hitler. Man kann das ganze auch „Herrenmenschen-Gehabe“ nennen. Aber genau das tut die CZ nicht.

Die Nazis waren nicht nur „unter“, sondern auch bald wieder „über uns“?

Erhard, Globke, Lübke, Kiesinger in den 1950er und 1960er Jahren – dann diese ganze Garde der ehemaligen, noch vom NS geprägten Wehrmachtsoffiziere wie Schmidt, Wischnewski, Dregger, Barzel. Das fand ja generationell tatsächlich erst mit Helmut Kohl ein Ende. Und auf lokaler Ebene brauche ich ja nur die Namen Blanke, Heinichen, Hörstmann, Eichelberg usw. usw. nennen, damit deutlich wird: Die alten Nazis sind schnell an die Hebel der Macht zurückgekehrt.

Funktionierende Seilschaften, wie die CZ unterstellt?

Ach, das brauchte es eigentlich gar nicht. Die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft verdrängt und verschweigt – und sie ist eine Integrationsmaschine. Es gibt ja auch die lernfähigen ehemaligen Nazis, die sich ehrlich am Aufbau der repräsentativen Demokratie beteiligen. Ausgegrenzt wird im Kern nur die in Form der Kommunistischen Partei vorhandene lebendige Erinnerung an Verfolgung und mögliche alternative Konsequenzen, denn die KPD wird verboten und das ihr verbundene Milieu zum Schweigen gebracht. Die Seilschaften mag es gegeben haben. Voraussetzung war aber, wie zum Beispiel beim Oberlandesgericht, dass die formalen Hürden zur Wiedereinstellung beseitigt wurden. Und das bekamen die Eliten schnell und souverän hin.

Im Fall von Darges’ Einstellung als DRK-Geschäftsführer wird auf die mögliche Rolle des damaligen Oberkreisdirektors Axel Bruns hingewiesen.

Ritterkreuzträger unter sich. Selbstverständlich spielt das eine Rolle. Man kennt sich – z.B. über die Ordensgemeinschaft der Ritterkreuzträger, man deckt und fördert sich. Ein ekliges Milieu, das ja tatsächlich erst durch die Proteste bei ihrem Treffen in Celle 1995 eine Niederlage einstecken musste. Viel zu spät.

Nochmal kurz zurück zu Helene Sonnemann.

Sie kommt als gefeierte Kinderretterin nach Celle, hat sie doch 1943 die Evakuierung von rund 300 Kindern, 70 Schwestern und sechs weiteren Ärztinnen aus dem zerbombten Hamburg nach Celle organisiert und geleitet. Die nahmen in Celle die Hehlentorschule als Hilfskrankenhaus in Beschlag. Eine Heldin gewissermaßen – und den Nazi-Orden, den sie dafür bekommen hat, hat dann das Garnison-Museum bis zur CZ-Serie ausgestellt. Das ist ihr Nimbus. 1949 gibt es in Hamburg ein Untersuchungsverfahren. Aber das Landgericht verzichtet auf die Eröffnung des Hauptverfahrens, obwohl die Tötung von mindestens 56 Kindern im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort festgestellt wurde und dass „die Tötung der Kinder objektiv rechtswidrig gewesen“ sei. Die Richter aber befanden, dass die Angeschuldigten das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit nicht gehabt hätten. Deshalb sei ein Schuldbeweis nicht zu führen. Was – nebenbei – einer Rechtfertigung der NS-Euthanasie-Aktion gleichkommt. Ergebnis also: Keine Anklage. Folge deshalb: Keine. Das ist der demokratische Rechtsstaat in seiner Geburtsphase. Im Nachhinein wäre zu fragen, ob Sonnemann-Darges irgendwann einmal zu einem Bewusstsein der Rechtswidrigkeit ihrer Taten gekommen ist.

Für ein gewisses Erschrecken hat diese Enthüllung jetzt aber ja gesorgt; das AKH will sich mit dem Thema „Euthanasie und Nationalsozialismus“ auseinandersetzen.

Spannender wäre, sich gleichzeitig mit der Frage der „Aufarbeitung“ in einer Stadtgesellschaft wie Celle zu beschäftigen. Wir hatten ja auch den „Fall“ Heinrich Bunke, ein hier ansässiger Frauenarzt, der Ende der 1980er Jahre wegen Beihilfe zum Mord an 9.200 Menschen im Rahmen der NS-Euthanasie Aktion zu drei Jahre Haft verurteilt wurde. Als erstmals in den 1960er Jahren ein Prozess gegen ihn angestrengt wurde und er kurzfristig seine Approbation verlor, sollen in Celler Arztpraxen rund 5.000 Unterschriften für ihn gesammelt worden sein. Eine fast unglaubliche nachträgliche Rechtfertigung eines NS-Verbrechens durch einen nicht unbeträchtlichen Teil der Gesellschaft.

Wie hat die Cellesche Zeitung damals berichtet?

Ich vermute mal, in den 1960er Jahren gab’s nichts. In den 1980ern wurde über den Frankfurter Euthanasie-Prozess gänzlich abweichend vom heutigen „Infotainment“ zumeist sehr knapp mit dpa-Meldungen berichtetet. Aber in der Tat: Wer in Celle über die Zeit des Nationalsozialismus und die über Jahrzehnte misslingende Aufarbeitung reden will, darf über die Rolle der Celleschen Zeitung nicht schweigen. Hierfür nur ein – den älteren Leser_innen – wohlbekanntes Beispiel: Walther Zuzan, der 1977 zur CZ kam und lange Jahre dafür sorgte, dass das Blatt seinen Ruf als „Heide-Stürmer“ nicht los wurde. Zuzan war – wie DIE ZEIT berichtete - von 1931 bis 1935 bereits Mitglied der in Österreich noch verbotenen Hitlerjugend, seit dem Mai 1938 Mitglied der NSDAP sowie seit dem 15. Oktober 1936 Mitglied der SS mit der Nummer 304 553. Nach dem Krieg soll er als Chefredakteur die neonazistische Zeitschrift „Der Aufbruch“ geleitet und Kontakt zur neonazistischen Tarnorganisation „Freikorps Schwarze Jäger" gehabt haben. Ein „Unbelehrbarer“, was DIE ZEIT mit dem Hinweis darauf belegte, dass Zuzan 1968 als „Beisitzer des NPD-Kreisverbandes Hamburg-Altona" geführt worden sei. Seine Kommentare und Leitartikel waren entsprechend.

Dann müssen wir demnächst mit einer Serie „SS-Journalist verbrachte seine letzten Berufsjahre in unseren Redaktionsstuben“ rechnen?

Nein, sicherlich nicht. Aber darum würde es auch nicht gehen. Die Rolle und Wirkung als lokal dominierendes Blatt in NS und Nachkrieg wäre das Thema, wobei es aber selbstverständlich auch um die handelnden Personen gehen müsste. In den letzten Jahren hat die CZ ja an vielen Punkten eine durchaus beachtliche Rolle in der lokalen Erinnerungspolitik gespielt. Da wird ja nichts mehr unter den Teppich gekehrt, sondern im Gegenteil: Einige Redakteure beschäftigen sich bei Gelegenheit kritisch mit der NS-Lokalgeschichte. Und es war ja nicht falsch, die Geschichte Darges/Sonnemann aufzugreifen. Nur kann dabei in Anlehnung an den Stil der BILD eben nicht Aufklärung herauskommen. Schaut mal in die Internet-Foren von Wehrmachtsfans - die können scheinbar mit der CZ-Serie gut leben.

Und sie haben die CZ mit der SS-Personalakte von Darges beliefert?

Ja – behaupten sie. Zur Beurteilung von Darges’ müsste man dann aber weiter schauen: Was hat Martin Bormann in der Zeit getrieben, als Darges bei ihm Adjutant war? Ich hatte jetzt nur die Longerich-Studie „Hitlers Stellvertreter“ zur Hand und das ist mehr Organisationsgeschichte. Und auch, wenn aus der SS-Akte hervorgeht, für welche militärische „Aktion“ Darges das Ritterkreuz bekommen hat, müsste man schon schauen: Was die SS-Panzerdivision „Wiking“ in Budapest und vor allem danach getrieben? Denn zeitparallel zu dem Celler Massaker an KZ-Häftlingen ermordeten die Reste von Darges’ SS-Regiment in Österreich aus Mauthausen entflohene KZ-Häftlinge – kurz nachdem ihm am 5. April das Ritterkreuz verliehen wurde und kurz bevor er in US-Gefangenenschaft geriet.

Ergeben sich für die lokale Forschung und Erinnerungspolitik weitere Aufgaben?

Wenn ich auf den Beginn des Gesprächs zurückkommen kann: Die Beschäftigung mit Täterbiografien wäre in Celle ein neues Feld. Am Beispiel AKH wird vielleicht deutlich, dass es im Einzelfall sinnvoll sein kann, sich mit der Geschichte bestimmter Institutionen zu befassen. Und ich würde mal hoffen, dass die Bestände des Garnisonmuseums einen neuen, wohltemperierten Platz im Lager des Bomann-Museums finden.

Letzte Frage – Es wurde ja spekuliert, dass demnächst von Darges sowas wie Lebenserinnerungen veröffentlich werden könnten. Was wäre davon zu erwarten?

Was soll dabei rauskommen, wenn ein bekennender Nationalsozialist über den Nationalsozialismus schreibt? Ein Traktat zum Vergnügen bekennender und heimlicher Nationalsozialisten. Und im Ernst: Was hätte man davon, wenn Darges enthüllen würde, dass der Führer tatsächlich nur ein Ei hatte – oder heimlich gern mit Eva Weißwürste verspeist hat?

Die CZ-Serie kann nachgelesen werden unter:
http://www.cellesche-zeitung.de/index.php/cz/Inhalt/Themenwelt/
Serien/Der-Adjutant-Hitlers

Aus: revista. linke zeitung für politik und kultur in celle, Nr. 77, Febr./März 2010, S. 20-22.