Warum Mediziner während des Nationalsozialismus behinderte Kinder töteten

Mehr als 5.000 geistig und körperlich behinderte Kinder wurden zwischen 1939 und 1945 in 30 sogenannten „Kinderfachabteilungen“ von Krankenhäusern durch ihre Ärzte ermordet. Das Hamburger Kinderkrankenhaus Rothenburgsort (KKR) war eines davon. Hier wurden mindestens 56 Kinder durch Spritzen mit dem Barbiturat Luminal getötet.

Eine der Täterinnen dort war die spätere Leiterin der Kinderklinik am Celler AKH, Dr. Helene Sonemann. Obwohl man es spätestens seit zwei Veröffentlichungen im SPIEGEL in den frühen 1960er Jahren hätte wissen können, waren ihre Taten seinerzeit weder für die AKH-Leitung noch für die lokale Öffentlichkeit „ein Problem“. Erst im Zusammenhang mit dem Tod ihres Mannes Fritz Darges, dem ehemaligen Adjutanten des „Führers“ und späteren Geschäftsführer des Deutschen Roten Kreuzes in Celle, kamen die Kindermorde in Rothenburgsort (wieder) an die Öffentlichkeit. Helene Sonemann-Darges war da schon zehn Jahre tot. Der Vorstand des AKH beauftragte seinerzeit Raimond Reiter mit einer Untersuchung, die 2011 unter dem Titel „Dr. Helene Sonemann – erfolgreiche Kinderärztin und Verstrickungen in NS-Verbrechen“ erschien. Es ist kaum anzunehmen, dass der Titel der Auftragsarbeit von Raimond Reiter stammt.

Andreas Babel, Blattmacher bei der Celleschen Zeitung, hat sich seit 2009 mit Darges-Sonemann und der Kinderfachabteilung Rothenburgsort beschäftigt. Er bringt schon im Titel seines jetzt erschienenen Buches auf den Punkt, dass es nicht um irgendeine Form von Verstrickung ging, sondern um: „Kindermord im Kranken-haus“. Und er verspricht im Untertitel eine Antwort auf die Frage: „Warum Mediziner während des Nationalsozialismus in Rothenburgsort behinderte Kinder töteten“.
Wissenschaftlich ist das Verbrechen in der Dissertation „Die „Euthanasie“ an Kindern während des Nationalsozialismus in den zwei Hamburger Kinderfachabteilungen“ von Hendrik van den Bussche untersucht. Dies und auch die Ermittlungsakten der Hamburger Staatsanwaltschaft aus dem Jahr 1948 bilden die Basis für Babels weitere Recherchen: Er widmet sich vor allem den Täter*innen und spürt ihren Lebensgeschichten nach. Er fragt, warum sie so handelten, wie sie handelten – und ob die Morde irgendeine Bedeutung für ihr weiteres Leben und ihre Karrieren hatte. Babel macht dies auch mit journalistischen Methoden, so befragt er z.B. Verwandte der Täter*innen nach ihrem Wissen um die Verbrechen und mögliche Aufarbeitung bzw. Distanzierung. Vieles bleibt spekulativ, aber der Autor macht so eine zusätzliche Perspektive auf – nämlich die der Nachgeborenen.

Über die Biografien von vier Kinderärztinnen, die sich dem Morden entzogen, verweist Babel zudem auf Möglichkeiten, die auch die Täter*innen gehabt hätten. Doch es ist erschreckend, dass es Reue oder Einsicht in die eigene Schuld nicht gab. Zu einer Verurteilung war es 1949 nicht gekommen, weil das Gericht den Angeklagten den Glauben zugestand, im Sinne eines Gesetzes gehandelt zu haben, das es nicht gab. Als Sonemann 1976 in den Ruhestand verabschiedet wurde, verglich sie ihr Berufsleben mit einer Wanderung und kam zu dem Fazit: „Das Ziel ist ohne Unfall erreicht.“

Gerade bei den jungen Ärztinnen machte der Karrierewunsch sie skrupellos, sie teilten – wie der Autor im Einzelfall belegen kann – die sozialdarwinistischen Weltsicht des NS und sie handelten aus autoritätsgebunden Mentalitäten. Babel macht deutlich, dass vor wie auch nach 1945 die Ermordung Behinderter in großen Teilen der Gesellschaft als „Gnadentod“ gesehen wurde, was die Täter*innen in ihrem Unrechtsbewusstsein bestärkte.

Gerade die in Teilen journalistische Herangehensweise macht dieses Buch lesenswert. Der Autor hat Fragen, die er mit seinen Leser*innen teilen will. Und er will zur Entwicklung von Haltungen beitragen, die erlauben, sich gegen Unrecht zu stellen. Die Bedingungen von Handeln zu verstehen, kann dabei hilfreich sein. Verstehen muss nicht dazu führen, ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie es den Nachgeborenen in Deutschland Jahrzehnte abverlangt wurde. So schleicht sich auch bei Babel noch ein Nebensatz ein, wonach zwei Väter von Täterinnen, „sich als Beamte natürlich mit dem Schreckenssystem arrangierten“.

Andreas Babel: Kindermord im Krankenhaus. Warum Mediziner während des Nationalsozialismus in Rothenburgsort behinderte Kinder töteten. 224 Seiten, ISBN 9783954940578, Bremen 2015. 16,90 €

PS.: An dieser Stelle mal eine Selbstkritik. Als nach Babels Buchvorstellung in der Synagoge eine Teilnehmerin die „Euthanasie“-Morde auf eine Stufe mit Abtreibungen auf Grundlage medizinischer Indikationen stellte und so indirekt abtreibende Frauen als Mörderinnen „verurteilte“, hätte man/frau das nicht so stehen lassen sollen. Nur, wer hat schon parat, dass a.) die embryopathische Indikation 1995 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde, b.) der Gesetzgeber zwischen Leben und Leibesfrucht unterscheidet, c.) es der § 218a ist, der die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs regelt.

Aus: revista. linke zeitung für politik und kultur in celle, Nr. 74, April/Mai 2015, S. 27.

Jahr
Quelle
Schlagworte