„... melde ich mich als von den Nazis Geschädigter“

Reinhard Rohde und Tim Wegener veröffentlichen „Frühe Berichte von der Verfolgung“

Wie seid ihr eigentlich auf diesen Quellenbestand gestoßen?

RR: Die beiden Aktenbestände sind schon in den frühen 1990er Jahren von Bertram für seine Stadtgeschichte genutzt worden. Wir haben sie auch gelegentlich genutzt, z.B. für die Darstellung der Verfolgung von Celler Kommunistinnen und Kommunisten. Aber erst im Zusammenhang mit Forschungsarbeiten, die in den vergangenen Jahren zur Geschichte der Wiedergutmachung in Westdeutschland erschienen sind, ist uns aufgegangen, welche Bedeutung dieser Quellenbestand als Ganzes hat. Die Wiedergutmachungsgesetzgebung setzt Ende der 1940er Jahre ein und gewinnt in den 1950er Jahren ihre endgültige Form. Wer auf dieser Grundlage dann Wiedergutmachungsanträge stellte und die eigene Verfolgungsgeschichte schilderte, wusste in der Regel, was die Behörden für entschädigungswürdig einstuften. Das Besondere des Celler Quellenbestands ist nun, dass die Berichte zeitnah zum Ende des Nationalsozialismus und noch nicht im Hinblick auf eine bestehende Gesetzgebung gegeben werden.
TW: Uns ist in dieser Hinsicht bundesweit kein vergleichbarer Aktenbestand bekannt. Die Berichte zeigen eine enorme Bandbreite: berufliche und wirtschaftliche Benachteiligungen, alltägliche Demütigungen und Ausgrenzung, Verfolgung und Haft aus politischen, rassistischen oder religiösen Gründen. Und das spielt sich alles ab in einer kleinen Stadt, so dass Beziehungsgeflechte unter den Opfern wie auch unter den Tätern sichtbar werden. Uns kam bei der Arbeit selbstverständlich entgegen, dass wir uns seit Jahren mit der Lokalgeschichte des Nationalsozialismus beschäftigen.

Euer Buch ist jetzt ja weit mehr als eine Quellensammlung, weshalb sich vielleicht auch erklärt, dass ihr so lange an dieser Veröffentlichung gearbeitet habt.
RR:
Die ursprüngliche Idee war in der Tat eine „klassische“ Quellenedition, weil wir die Berichte an sich schon für sehr lesenswert hielten und halten. Im Herbst 2006 haben wir dann mit den Abschriften begonnen, was auch schon eine gewisse Zeit erforderte, weil viele Berichte mit der Hand geschrieben waren. Der nächste Schritt war dann, einzelne Berichte mit Wiedergutmachungsakten im Niedersächsischen Landesarchiv abzugleichen. Uns hat interessiert, wie, ob und in welcher Weise die Betroffenen dann tatsächlich entschädigt wurden. Und um das mal anschaulich zu machen: Wenn wir hier in Celle den halbseitigen handgeschriebenen Bericht eines Kommunisten haben, der kaum mehr enthält, als die Angaben der Haftzeiten, stoßen wir bei Wiedergutmachungsverfahren der Betroffenen in Hannover regelmäßig auf einen Aktenbestand von mehreren hundert Seiten. Dabei waren dann nicht die in der Regel leicht belegbaren Haftzeiten das Problem, sondern es ging in solchen Fällen behördenseitig z.B. darum, ob und in welcher Weise gesundheitliche und berufliche Schäden haftbedingt waren oder eben nicht. Die Auswertung dieser Akte hat also auch ihre Zeit gebraucht.
TW: Im Celler Stadtarchiv haben wir dann weitere Akten erschlossen, in denen Aspekte einzelner Schicksale, z.B. eine Geschäftsschließung oder eine Entlassung aus dem öffentlichen Dienst behandelt wurden. Zu den ausführlichen Einleitungen zu den einzelnen Fallkomplexen mussten wir uns selbstverständlich z.B. auch intensiv mit den gesetzlichen Grundlagen der Verfolgung befassen. Bis zur Pogromnacht schafft sich der nationalsozialistische Staat ja für Ausgrenzung und Terror zumeist gesetzliche Grundlagen. Das alles lässt sich nicht so nebenbei machen, und wir haben die Arbeit an dem Buch immer mal wieder für andere Projekte unterbrochen. Deshalb hat es eben einige Jahre gedauert.

Wie kam es eigentlich dazu, dass ausgerechnet in Celle die Stadtverwaltung ihre Bürgerinnen und Bürger dazu aufrief, derartige Berichte zu geben?
RR: Zwei Akteure scheinen uns dafür wichtig gewesen zu sein: zum einen Ernst Schädlich, der zweite Mann hinter Oberbürgermeister Meyer, der als Sozialdemokrat 1933 aus der Verwaltung entfernt wurde und im Mai 1945 auf seinen alten Sessel zurückkehrt, zum andern der von den Briten eingesetzte Oberbürgermeister Walther Hörstmann. Letzterer kündigte in einer Ratssitzung im August 1945 an, „das Celler Bürgern durch längere KZ-Haft angetane Unrecht dadurch einigermaßen wiedergutzumachen, indem ihnen ein kleines Einfamilienhaus errichtet und übereignet wird“. Wir vermuten, dass Schädlich unter anderem beabsichtigte, für dieses Versprechen eine Datenbasis zu schaffen.

Das ist ja ein erstaunliches Wiedergutmachungsversprechen. Was ist davon im weiteren Verlauf übrig geblieben?
RR:
Nachdem es zunächst Landes- und dann Bundesregelungen gab, fand man eine andere, aber der ursprünglichen Intention noch entsprechende Regelung. Die Stadt bot den durch längere Gefängnis- und KZ-Haft Geschädigten günstige Grundstücke an, z.B. in der Pastor-Kittel-Straße. Und einige Betroffene brachten ihre gesetzlichen Haftentschädigungen von 150 DM pro Haftmonat in diese Grundstückskäufe und den Hausbau ein.

Das betraf ja wohl vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten. In welcher Weise reflektiert die Stadt in dieser Phase eigentlich die verfolgten und ermordeten Celler Jüdinnen und Juden?
TW:
Man kann den Eindruck haben, dass diese Verbrechen verdrängt wurden. Die nach der Befreiung Belsens in Celle wohnenden Überlebenden wurden im Aufruf dadurch ausgeschlossen, dass – wie es heißt – für die Meldung nur diejenigen Einwohner in Frage kämen, die vor dem 1. April 1945 in der Stadt Celle ihren ständigen Wohnsitz gehabt hätten. Und die emigrierten Celler Juden bzw. Angehörige der Ermordeten konnte man mit dem Aufruf ja gar nicht erreichen. Zurückgekehrt nach Celle war Rosa Karmeinsky, die Tochter des ermordeten Ehepaars Wexseler. Sie gab einen Bericht ab und die Verwaltung bemühte sich, ihr bei der Existenzgründung zu helfen – woraus aber aus unterschiedlichen Gründen nichts wurde. In einem anderen Fall ist die Verwaltung aber sehr abweisend: Gerhard Lindenberg, im NS-Jargon ein „Halbjude“, durfte ab Anfang 1939 nicht mehr als Fahrlehrer arbeiten. Er verlor so seine Existenzgrundlage und lebte fortan unter Gestapo-Überwachung und ab 1942 in ständiger Angst, deportiert zu werden. Er forderte im Juli 1945, dass man ihm als Entschädigung die Leitung der Städtischen Werke übertragen möge. In einem Ratsprotokoll dazu heißt es: „Diese Forderung wird einmütig als völlig unberechtigt zurückgewiesen und dem Oberbürgermeister darüber hinaus empfohlen, zu gegebener Zeit gegen L. Strafantrag wegen Nötigung zu stellen.“

Ihr habt die Berichte auf neun Kapitel aufgeteilt: Denunziation, wirtschaftliche Schäden und Benachteiligung, Berufsbeamtengesetz und davon abgeleitete Verordnungen, Verfolgung und Verhaftungen aus politischen Gründen, Bibelforscher – Verfolgung aus religiösen Gründen, Juden – Verfolgung aus „rassischen“ Gründen, Zwangssterilisation, Freimaurerlogen und Sonstige.
TW:
Das zeigt die große Breite sowohl der Formen wie auch der Gründe von Ausgrenzung und Verfolgung. Vor Denunziation war kaum jemand gefeit. Ein interessantes Beispiel ist hier Hermann Moeck, Gründer des Moeck-Verlags. Ab 1936 beschäftigt sich die NSDAP-Kreisleitung in Zusammenarbeit mit der Gestapo auf Basis einer Denunziation über Jahre intensiv mit Moeck. Verdächtig machte ihn, dass er den Deutschen Gruß verweigerte, die Hakenkreuzflagge nicht hisste und Kontakte ins Ausland hatte. Moeck hatte – wie seine Enkelin uns berichtete – eine ihn betreffende Akte kurz vor dem Einmarsch der Briten aus der verlassenen Kreisleitung entwendet. Davon legte er seinem Bericht Abschriften bei, die wir auch dokumentieren. Vorsicht war geboten, und es wird deutlich, dass Moeck sich dessen durchaus bewusst war. Ein lockeres Mundwerk konnte Geld- oder Haftstrafen zur Folge haben, wie zwei Fälle zeigen: Friedrich Boissevain verließ 1936 den Schweineschulzen mit dem Gruß „Haile-Selassie“, was ihn einigen Ärger und 100 RM Geldstrafe kostet. Der Tierarzt Reinhard Döhler wurde Anfang 1944 wegen folgenden Satzes denunziert: „Schöne Schweinerei, der Russe ist durchgebrochen, wenn das so weiter geht, ist er im März in Breslau“. Er verbrachte 29 Tage in Haft, ihm wurde das Hören und Verbreiten von Nachrichten ausländischer Sender vorgeworfen. Einem Prozess konnte er durch Zahlung von 6000 RM an das Deutsche Rote Kreuz entgehen. Die Berichte geben so gesehen auch einen tiefen Einblick in Teile des Alltags im Nationalsozialismus.
RR: Bei den Berichten wird auch deutlich, dass die „Ausrottung des Marxismus“, wie es Hitler in seiner ersten Ansprache als Reichskanzler zugespitzt formuliert hat, ein wesentliches Ziel des Nationalsozialismus war. Kommunisten und Sozialdemokraten bilden, was Berufsverbote sowie Gefängnis- und KZ-Haft betrifft, die größte Gruppe unter den 1945 abgegebenen Berichten. Und das ist kein Zufall. Weniger in den Berichten an die Stadt, schon aber in der Wiedergutmachungsakten, die wir hier in den meisten Fällen ergänzend hinzuziehen konnten, wird auch der Terror der Lager sehr anschaulich. Rainer Marwedel, Herausgeber der Theodor-Lessing-Werkausgabe, hat uns aus dem Nachlass seines Großvaters Adolf Marwedel einen umfangreichen Bericht über dessen KZ-Haft zugänglich gemacht, den wir auch dokumentieren.

Wieso meint Ihr, dass diese Berichtsammlung außerhalb der Lokalgeschichtsschreibung von Bedeutung ist?
TW:
Für die allererste Nachkriegsphase wird immer noch gern auf die Sammlung der sogenannten Erlebnisberichte aus dem Landkreis Celle von Hanna Fuess zurückgegriffen, die Rainer Schulze 1991 veröffentlicht hat. Darin werden vor allem die Mentalitäten der ländlichen Eliten deutlich, die zu den Stützen und Profiteuren des Nationalsozialismus gehörten und die das Jahr 1945 als Zusammenbruch erlebten. Die frühen Berichte von Opfern aus der Stadt Celle liefern so auch ein Gegenbild auf die damals so nahe Vergangenheit, denn für sie bedeutete das Ende der NS-Herrschaft eben Befreiung. Auch hier gilt, was wir immer gerne sagen: Lokale Geschichtsforschung kann exemplarische Erkenntnisse zum „großen Ganzen“ liefern. Und dann ist es halt die Tatsache, dass uns kein vergleichbarer Aktenbestand bekannt ist.

Reinhard Rohde, Tim Wegener: „... melde ich mich hiermit als von den Nazis Geschädigter“ - Frühe Berichte von der Verfolgung in Celle“ (= Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte), Bielefeld 2015, ISBN: 978-3-89534-980-5, Preis: 24 Euro (ab Ende April/Anfang Mai im Buchhandel)

 Aus: revista. linke zeitung für politik und kultur in celle, Nr. 74, April/Mai 2015, S. 21-23.