Karl Manzke: „Die Erinnerung bringt Versöhnung nah“

Landessuperintendent im Ruhestand blickt auf das Ende des Zweiten Weltkrieges vor fünfzig Jahren zurück:

Von Landessuperintendent i. R. Karl Manzke Es ist gut für uns alle, der vergangenen Zeiten zu gedenken, zu erzählen, wie es damals war. Wer sich nicht erinnert, kann auch keine Lehren aus der Geschichte ziehen und wird sie um so eher wiederholen. Ich habe das Kriegsende als 16jähriger Soldat erlebt und möchte meine Erfahrungen und Erinnerungen unter vier Stichworte fassen.

Die Erinnerung an den ver­gangenen Krieg erfüllt mich wie so viele Menschen nach wie vor mit Trauer. Es ist die Trauer um die unermeßliche Zahl der Toten - 50 Millionen -, die dem vergangenen Krieg zum Opfer fielen. Wir trauern um die Toten unseres Volkes, aller Völker, die fielen an den Fronten des Krie­ges, starben in den Lagern vor dem Kriege, im Kriege, nach dem Kriege. Wir trauern um die Toten in den zerbombten Städ­ten, um die, die auf der Flucht umkamen, ertranken, verhun­gerten. Jeder dieser Toten war ein Geschöpf Gottes. An jedem hingen Hoffnungen anderer Menschen. Jeder hinterließ eine Lücke, wurde betrauert von Eltern, Frauen, Männer, Kin­dern.

Aber über diese Trauer um die Toten hinaus erfüllt mich auch die Trauer um ein gestör­tes Bild vom Vaterland. In der Begegnung mit Menschen ande­rer Nationen, Franzosen, Eng­ländern, Dänen empfinde ich immer wieder, daß wir ein gebrochenes Verhältnis zum Vaterland haben. Diese Trauer meint nicht nur den Verlust meiner eigenen Heimat in Hin­terpommern, wo meine Vorfah­ren seit mehr als sieben Jahr­hunderten lebten und arbeite­ten und unser Hof schon fast verfallen ist. Ich denke dabei auch daran, daß Königsberg, wo Immanuel Kant lebte und lehrte, nicht mehr deutsch ist. Wir haben durch den vergange­nen Krieg und den Nationalso­zialismus ein gebrochenes Ver­hältnis zu unserer Geschichte und haben darum an eine neue Generation nicht mal weiterge­ben können, was das Wort „Vaterland“ bedeutet. Gustav Heinemann hat dies mit der ein­fachen Aussage zusammenge­faßt, daß Deutschland „ein schwieriges Vaterland“ ist.

Scham

Wir wissen, daß der Krieg nicht wie ein Verhängnis über unser Volk kam, nicht sein mußte. Er wurde herbeigeführt durch falsche, verbrecherische Politik. Wir haben unser Vater­land verspielt, zunächst andere Länder mit Krieg überzogen und sind dann selbst Opfer geworden. In deutschem Namen sind Taten geschehen, vor allem an den Juden, derer man sich nur schämen kann. Diese Taten sind mit dem deutschen Namen verbunden und bleiben es. Auch die kommenden Generationen werden noch damit behaftet und daran tragen „bis ins dritte und vierte Glied“, wie die Bibel sagt. Dabei übersehe ich nicht, daß auch andere Unrecht getan haben wie die völlig unsinnige und unnötige Zerstörung Dres­dens. Aber wir haben den Stein ins Rollen gebracht. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Wir wissen auch, daß alles begonnen hat mit falschem Denken und falschem Glauben. Der Krieg beginnt in den Köpfen und Her­zen der Menschen. Der Glaube an den unbedingten Wert von Nation, Volk und Rasse führte zu den entsetzlichen Taten. Der Glaube an das Recht der Stärke­ren, sich gegen das Schwache und angeblich Minderwertige durchzusetzen, war die Ursache für das Geschehen. An die Stelle des Kreuzes Christi wurde als Ausdruck des Aberglaubens das Hakenkreuz gesetzt. Auch die Kirche war von diesem Aber­glauben durchsetzt.

Nach wie vor gilt, was der Historiker Gerhard Ritter über den Widerstand geschrieben hat: „Hier nun enthüllt sich die tiefste Schwäche unserer Zeit: ihre Glaubensarmut, die Unsi­cherheit der Überzeugungen, der Relativismus sittlicher Werte, die Skepsis gegenüber allem, was als unbedingte For­derung vor den Menschen tritt. Die Tatsache, daß er einen fana­tisch verfochtenen Glauben an sich selber besaß, an seine Mis­sion und an den nationalsoziali­stischen Religionsersatz, gab Hitler die stärkste Überlegen­heit über so viele kluge, aber skeptisch unsichere Politiker der Weimarer Republik.“

Dank
I
ch erinnere mich genau an den 8. Mai 1945, den ich in Schleswig-Holstein bei Kalten­kirchen erlebte. Es war ein wunderschöner Frühlingsmor­gen. Plötzlich wurde es still, das Schießen hörte auf. Meine erste Empfindung war: Gott sei Dank, es ist vorbei. So haben es viele Menschen empfunden. Endlich hörte es auf, das Schießen und Morden. Endlich hörte auch der Terror auf, der immer sinnloser geworden war. Von vielen ist in der Tat der 8. Mai als Befreiung empfunden worden.

Andere haben den 8. Mai 1945 anders in Erinnerung, die Menschen in den östlichen Pro­vinzen zum Beispiel wie mein Vater und meine Geschwister in Hinterpommern. Für sie war der 8. Mai kein Tag der Befrei­ung. Sie mußten anders als die Menschen im Westen die Folgen des von Deutschland begonne­nen Krieges tragen, waren rechtlos der Willkür, Vergewal­tigungen, Mißhandlungen und der Vertreibung ausgeliefert. Schmerzhafter als die Vertrei­bung selbst war für viele, mit welcher demütigenden Behand­lung sie geschah. Dennoch ist der 8. Mai Symbol für den Zusammenbruch eines verbre­cherischen und menschenver­achtenden Systems und der Befreiung von einer Verblen­dung, der viele bis zum Schluß verfallen waren.
Aber der Dank geht weiter. Wenn man unsere Erwartungen von 1945 mit dem tatsächlichen Fortgang der Geschichte ver­gleicht, kann ich nur darüber staunen, wie weit unsere Erwartungen übertroffen wor­den sind. Schneller als erwartet haben die Sieger uns geholfen, uns die Freiheit gegeben, unse­ren Staat neu zu gestalten. Der wirtschaftliche Aufstieg und der Wiederaufbau unseres Landes war in der Tat wie ein Wunder. Im Rückblick auf die Chancen, die wir erhalten haben und noch haben, bin ich voller Dank. Wir sind zu einem der reichsten Länder der Welt geworden. Wir haben seit einigen Jahren nun auch die Möglichkeit, die Men­schen in den östlichen Ländern daran teilhaben zu lassen, die mehr als wir im Westen die Fol­gen des Krieges zu tragen hat­ten. Es bekümmert mich oft, daß von diesem Dank so wenig zu hören ist und wir Deutschen eher zu Wehleidigkeit neigen und das, was noch nicht ist, mehr sehen als unsere Möglich­keiten.

Sorge

In diesen Wochen wird oft die Aussage zu hören sein: So etwas darf nicht wieder geschehen. Von deutschem Boden soll kein Krieg wieder ausgehen und keine Verfolgung Menschen anderen Glaubens und anderer Rasse. Dahinter steht ja die Frage: Kann es doch gesche­hen? Können Menschen einan­der wieder so etwas antun, wie es damals geschehen ist? Natür­lich können sie, können wir.
Psychologe Sigmund Freud, kein Freund der Christen, hat als seine Einsicht über den Menschen formuliert, daß bei uns allen unter der dünnen Firnis der Kultur „die Instinkte einer Rotte von Mördern lebendig sind“. Beispiele dafür liefert unsere Zeit genug. Ob es sich wiederholt, hängt heut wie damals sicher auch oder entscheidend von unserem Glauben ab. Werner Heisenberg, einer der großen Naturwissenschaftler unseres Jahrhunderts hat das einmal so gesagt: „Wenn man in dieser westlichen Welt fragt, was gut und was schlecht ist, was erstrebenswert und was zu verdammen ist, so findet man doch immer wieder den Wertmaßstab des Christentums auch dort, wo man mit Bildern und Gleichnissen dieser Religion längst nichts mehr anfangen kann. Wenn einmal die magnetische Kraft ganz erloschen ist, die diesen Kompaß lenkt, so fürchte ich, daß sehr schreckliche Dinge passieren können, die über die Konzentrationslager und die Atom bomben noch hinausgehen.“

Wie ist es mit dem Glauben der Menschen in unser Land? Was glauben die Deutschen? Viele stellen die Frage nach dem Glauben nicht mehr und verdrängen sie. Die Folge ist dann eine Orientierungslosigkeit, in der sogar die Gespenster von Nation und Rasse auferstehen. Dies erfüllt mich imRückblick mit Sorge.
Darum halte ich die Erinnerung für wichtig, weil sie uns anstößt, den Fragen nach unseren Überzeugungen, für die wir einstehen, nach unserem Glauben nicht auszuweichen.

Jahr
Personen
Schlagworte